Gesicht verloren

Ich war da.
Kürzlich überkam mich die Version "Schlechtes Gewissen 2.0", das mich ankreischte, ich sei nicht mehr up-to-date, nicht kommunikativ genug, nicht dabei. Ein Angstschauer überlief mich. Wann würden sie bemerken, dass ich drei Füller besitze, sogar am liebsten mit dem historischen schreibe, bei dem man die Tinte noch aus dem Fässchen aufziehen muss? Ich sah mich bereits abgeschoben in Kommunikationslager, in denen sie notorische Büttenpapierschöpfer und Mehr-als-140-Zeichen-Schreiber online umerziehen. Wollte ich wirklich unter KollegInnen enden, die noch eine mechanische Schreibmaschine besitzen oder gar miteinander eine Flasche Wein niedermachen, und nachher tatsächlich echten Alkohol in den Adern haben, statt in Foren auszurufen: "Stell dir Käff'chen hin, schmatz, lol!"

Ich bin ja eine alte Netzwerktante. Bisher habe ich alle Netzwerke, die irgendwann mal ultrainnovativ waren, überlebt. Sogar die, bei deren Gründung ich selbst verschwörerisch mitgeholfen habe. Ich erinnere mich an spaßige Zeiten von Hier-dürfen-nur-Frauen-rein-Netzwerken und Netzwerken für "nur Business bitte". Sogar den Vorläufer von Xing hatte ich intensiv beschnuppert und mich gewundert, warum mir ständig nur Romanfiguren begegneten und keine Menschen. Was hätte ich alles für super Geschäfte machen können, mit dem Typen, der zu meinen Lesungen für nur 1000 Euro kochen wollte; mit dem Herrn, der irgendwelche Urahnenverhältnissse zum Fußnägelverschneider des Kaisers von China hatte, nebst Geschäftsidee, versteht sich; mit der Dame, die mich in Effektivitätsteuerung morbidzirkulärer Hirnbahnen einweihen wollte...

Todesmutig bin also mal bei Facebook eingetreten. Weil ich gesehen habe, dass eine Kollegin dort war. Und weil alle sagen, dass das heutzutage dazu gehört. Da war ich also. Endlich kann man nach Leuten suchen. Aber so sehr ich auch suchte, eben jene Kollegin existierte laut Suchmaschine nicht (sie ist aber drin). Stattdessen fand ich jemanden, mit dem ich seit Jahren eng zu tun habe. Soll ich den jetzt fragen, ob ich ihm "followen" darf oder hieß es "frienden"? Wir mailen uns doch eh ständig? Soll ich jetzt meine Kommunikation mit ihm in ein System stellen, dass spaßig Daten sammelt und immer wieder für Sicherheitsunwohlsein bis in die Presse sorgte (z.B. hier und hier)? Weitersuchen. Komm, du hast Bekanntschaften in mindestens drei Ländern, wirste doch jemanden finden!

Funkstille. Ich kenne offensichtlich die Menschen von der dunklen Seite des Mondes. Aber klar. Man haut ja nicht mal schnell einen Verleger an: "Wollen wir uns folgen und folgst du mir dann brav und kaufst mein Manuskript"? Oder Lektorinnen unter sich: "Ey, wow, da war gestern einer, der kann 140 Zeichen fehlerlos am Stück tippen, was'n Profi!" Pardon, das war die andere Organisation. Und die Kolleginnen und Kollegen? Nada. Oder sie waren woanders leichter zu haben. Die Webzwonuller betreiben ja alle Gemischtkommunikationsläden. Die hab ich schöner in ihren Blogs. Es gab nicht einmal Leute nach dem Motto: Den kann ich live nie ansprechen, jetzt endlich darf ich ihm offiziell abgesegnet hinterher stalken. Pardon, followen, dich zum "Freund" machen.

Einsam und allein habe ich dann geschaut, was ich machen kann und was ich machen muss, wie viel Zeit mich das kostet (ich hatte schon eine Woche lang recherchiert, was mir Facebook überhaupt bringen könnte). Millionen von Menschen vor meiner Nase, Millionen von Möglichkeiten, aber Carla Bruni hockt bei myspace. Und ich hockte bei Facebook fest. Wusste auf einmal, das war eine gigantische Zeitfressermaschine und für eine wie mich ein Ort ziellos-belangloser Kommunikationsmöglichkeiten mit umso zielgerichteterem Werbebeschuss.

Zeit für die Reißleine. Beklagten sich nicht immer wieder gute Freunde, ich hätte vor lauter Arbeit keine Zeit mehr für sie? Habe ich nicht bis zu meinem Auftritt alle Privatvergnügungen abgesagt, weil ich allenfalls noch zum Bloggen in der Kaffeepause komme? Bin nicht ich diejenige, die eisern Telefon, Klingel und Mailordner missachtet, um in Ruhe schreiben zu können?

Sie haben mich so einfach nicht gehen lassen. Es ist verdammt schwer, die Anleitung fürs Aussteigen zu finden, in den Foren werden die entsprechenden Links sofort gelöscht (ein Schelm, wer Böses dabei denkt). Irgendwo fand ich dann doch noch den erlösenden Link, den man in die Browserzeile kopieren muss, um bei Facebook auszutreten (Leerzeichen löschen):
w ww. facebook. com/help/contact.php?show_form=delete_account

Sie haben mich dann angequengelt. Ich würde mir das sicher noch mal überlegen und deshalb würde mein Account sofort wieder aktiviert, wenn ich innerhalb von 14 Tagen noch mal einlogge. Es überlegen sich doch so viele anders...
Ich mag keine Leute, die mir an der Tür ihre Religion verkaufen wollen und nicht gehen, wenn ich ihnen höflich sage, dass ich keinen Himmel erstehen will. Und wenn sie innerhalb von 14 Tagen wieder klopfen, verkaufe ich ihnen den Teufel.

Irgendwie bin ich ungeeignet für sowas. A-social. Zu dumm für diese neue Welt?
Als ich dann also mein Face endlich los hatte (wahrscheinlich bin ich aber weiterhin eine Karteileiche zum fröhlichen Datenhandel), fuhr ich zu einer Freundin. Einer echten. Die war nicht da, lebte.

Da bin ich also. Ohne Facebook, ohne Twitter, nicht bei myspace und wie sie alle heißen, die Dauerkommunikation von mir wollen. Ich lebe trotzdem noch. Ich sitze jetzt öfter in der Sonne und schau auf die dunkle Seite des Mondes.

Lesetipp:
"A faint cold fear thrills through my veins" (Shakespeare) wurde einst zum Wahlspruch einer berühmten Krimireihe. The Guardian tut's auch!

4 Kommentare:

  1. Liebe Petra,

    da hast Du ja noch mal Glück, wenn Dir jemand noch Mails schreibt, die Deinigen beantwortet ...

    Viele Grüße von den Tintenkleksen! Erst heute früh wieder, im Cafe, mit echtem hübschen Notizbuch ... und echtem Kaffee!

    Anni (Bürkl, www.texteundtee.at)

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  2. Liebe Anni,

    vielleicht kenne ich die "falschen" Leute? Mit denen ich stundenlang telefonieren kann oder Wein trinken.

    Das ist etwas, was mir an der französischen Mentalität gefällt, obwohl es mich im Arbeitsalltag auch manchmal auf die Palme bringt: Ohne zwischenmenschlichen Echtkontakt läuft NICHTS, auch nicht die Anfrage beim Amt. Ich muss immer zuerst dem anderen meine Wertschätzung von Mensch zu Mensch zeigen, real life, und dann prüft man, ob man sich riechen kann.

    Im ländlichen Raum ist das oft schrecklich, weil man eine Menge Zeit braucht, viele Kilometer fährt für Dinge, die man in Deutschland in fünf Minuten am Telefon abfeiert. Und sobald es komplexer wird: "Das machen wir aber jetzt nicht am Telefon, da müssen wir uns treffen."

    Andererseits profitieren wir alle von diesem sozialen Netz, denn wenn einmal die Hürde geschafft ist (was man mit einem gemeinsamen Essen begeht), halten solche Beziehungen sehr lang, wird man empfohlen und gerät in Kreise, die sich gegenseitig helfen. Oft werden solche Geschäftsbeziehungen wirklich zu Freunden - im Ursinn, nicht im dahergesagten des Internet.

    Ich kann behaupten, dass ALLE meine französischen Aufträge mindestens mit einer Tasse Kaffee und meist mit einem Essen besiegelt wurden. Und irgendwann staunte ich, wie viele sich von denen wieder kennen.
    Ich praktiziere das aber auch in Deutschland - wenn ich mit einem Verlag länger zusammen arbeiten will, lerne ich die Leute gern persönlich kennen.

    Und mindestens ein Telefonat muss immer drin sein, denn beim gesprochenen Medium bekomme ich Nuancen mit, die kein Facebook, kein Twitter und wie sie alle heißen, vermitteln können.

    Ich denke, man darf sich die Leute dahingehend auch erziehen.

    Grüße,
    Petra

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  3. Ist doch super schön!
    Werde ich auch wieder vermehrt praktizieren. :-)

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  4. Inzwischen ist eine Menge Zeit vergangen, ich twittere - noch. Obwohl ich von dessen Wirkung auch nicht mehr überzeugt bin. Immerhin habe ich bei 400 Followers und gefühlten 1500 von mir abgelehnten zufällig eine Perle von Mensch und eine Kollegin kennengelernt, die ich ins ausführlichere Leben geführt habe. In echtes Miteinander-Kommunizieren. Die eine ist nicht mehr bei Twitter, der andere selten.

    Nach wie vor treffe ich die interessanten Leute im Internet fast ausschließlich durch Blogs oder Emails. Vielleicht spielen die Menschen dort weniger Theater? Vielleicht ist dort der neoliberale narzistische Personenkult noch nicht so ganz pseudoreligiös?

    Ich mag Menschen nicht an Klicks, Gefolgschaft und Lautstärke beurteilen müssen. Bis jetzt waren die Perlen, die es bei mir zu echten, wahren wirklichen Freundschaften geschafft haben, im Internet die Leisen, die fast nicht Vorhandenen, die grauen Mäuse. Diese Diskrepanz gibt mir zu denken.

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