Kreise oder warum einen alles einholt

Kürzlich schnappte ich den Satz auf: "Man muss in der Kunst scheinbar Nutzloses wagen." Seit eben verstehe ich ihn.

Ich habe in meinem Leben auch ohne Kunst so viel scheinbar Nutzloses getan. Einfach, weil sich für mich eine Notwendigkeit ergab, deren Ursachen oder Ziele ich nicht orten konnte oder wollte. Statt im Studium brav die vorgeschriebenen Theologenscheine zu sammeln, beschäftigte ich mich z.B. bei einem nicht wohlgelittenen, weil unbequemen Schweizer Professor mit der Kirche im Dritten Reich. Damals lernte ich, mit Zeitzeugen umzugehen - und was ich erst in meiner zweiten Berufsausbildung erfuhr, mit journalistischen Techniken. Es lebten noch spannende Menschen Anfang der Achtziger. Weil ich diese Arbeit nicht als Journalistin tat, hatte ich Zeit für sie, konnte das Thema über ein Jahr lang verfolgen.

Es ist eine schwere Arbeit, die im Normalfall nicht abläuft wie über die Datenbanken für Doku-Soaps. Für das ganze Leben traumatisierte Menschen brauchen Respekt und Zeit, müssen Vertrauen entwickeln können. Sie sind keine Informationsbörsen, wohlfeil für die Medien, sie teilen ein Schicksal - mit. Manche schweigen auch weiter. Menschlich und inhaltlich hat mich diese Arbeit besonders geprägt, im Hinblick auf die brave Tour Richtung Examen hat sie nichts gebracht. Offiziell verschwendete Zeit. Nutzlos?

Noch ein loser Faden: Ein Roman, der vor Jahren hochblubberte in mir, dem ich untreu wurde. Ich schrieb stattdessen auf Anraten anderer "Nützliches" - heitere Unterhaltungsromane. Aber man fühlt, wenn man das Falsche tut; jener Roman holte mich wieder ein, veränderte sich, meldete sich immer wieder, packte zu. Wenn ich meinen Nijinsky fertig geschrieben habe, will ich ihn ernsthaft angehen. Die Arbeit wird mir jedoch zunächst nichts einbringen. So ein Manuskript verkauft man nicht vorab. Die Zeit wird querfinanziert werden müssen. Offiziell spinnert, unvernünftig. Nutzlos?

Der dritte lose Faden: Suchdienst Rotes Kreuz. Ein Namensdoppelgänger, Jahrzehnte falscher Suche mit falschen Angaben, scheinbar nutzlos - der Krieg war so lang vorbei. Und dann erreichte auch mich vor Jahren ein solcher Brief mit den falschen Leuten und den falschen Daten, ich sah in ein Schicksal hinein, erahnte ein anderes, konnte nicht weiterhelfen, weil auch ich die falsche dafür war. Datenfehler. Nutzlos?

Die Parallele zu meinem Romanthema war jedoch schon da. Gleicher Ort, gleiche Zeit. Aber das war meine Geschichte, die ich erfand und über die ich gebieten wollte. Recherche schien sicherer (ruhiger?) in Archiven, Büchern, Abhandlungen. Ich wusste doch so genau, was ich wollte. Diese Figur der Oma Anna würde ich schon noch erfinden können.

Heute plötzlich, nach Jahren, Kontakt zu einem der falschen Leute mit den falschen Daten und der falschen Geschichte, die nicht die zu verschriftende war. Kontakt aus einem völlig anderen Grund. Und dann war der Akku im Telefon leer. Nach einem Leben voller Schweigen sprudelte er plötzlich heraus. Erinnerte sich. An eine wie meine erfundene Anna. Und da sitze ich, immer noch ein wenig fassungslos über das Verknüpfen scheinbar nutzloser loser Fäden im Leben, und habe einen Augenzeugen, wenn nicht sogar DEN Augenzeugen für meinen Roman.

Falls ich mich darauf einlasse, wird das Schreiben zu schwerer menschlicher Arbeit werden. Dann wird das einer dieser Romane, aus denen der Autor anders heraussteigt als er hineingestiegen ist. Wandelstoff. Aber plötzlich erhalten auch all meine gesammelten Fotos, Pläne und Unterlagen eine zusätzliche Bedeutung. Vor mir liegt ein Wohnungsgrundriss aus einem Viertel, in dem der Augenzeuge seine Kindheit verbracht hat. Vor mir liegen Dokumente, die er damals nicht gekannt haben kann, die aber auf sein Leben eingewirkt haben mussten. Vor mir liegen Fotos, die seine Welt von damals zeigen. Er hat gelebt, was ich nur erfinden wollte.

Auch das ist Zeitzeugenarbeit: Aus-Tausch. Nicht Abfragen und Konsumieren. Ich müsste ein Stück von mir zurücklassen. Und dann trotzdem von erinnerter Wirklichkeit wieder in Distanz gehen können, ohne die Nähe zu einem Menschen zu verlieren. Denn ein Roman darf kein Leben 1:1 abbilden. Ein Roman schafft neues Leben...

Keine Frage: ich werde wieder etwas scheinbar Nutzloses tun. Ich glaube nämlich nicht, dass man etwas im Leben "umsonst" macht, wenn man mit Leidenschaft dahinter steht.

2 Kommentare:

  1. Ja - so geht es mir auch mit meinem DDR Projekt. Voller Eifer habe ich das Konzept entwickelt und meinem damaligen Agenten vorgelegt. Reaktion: DDR Kram will keiner mehr lesen, nicht mal mehr von den DDR Autoren...
    Aber die Geschichte drängt nach draußen und ist eigentlich unabhängig von der DDR - es ist nur für die Figurenkonstellation notwendig, dass die Freunde einige Jahre absolut ohne Info getrennt werden.

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  2. Wie heißt es so schön: Wat mut, dat mut. Manchmal, wenn man es sich leisten kann, sollte man einfach loslegen. Und wenn es "nur" für das eigene Glück war. In deinem Fall klingt das, als hättest du vielleicht nur das falsche Etikett aufgeklebt statt den Kern? Wenn Geschichte und Schreibe stark genug sind, wird das!

    Ich gebe aber unumwunden zu, dass ich eine ernsthafte Veröffentlichung anstrebe und mich mit dem Projekt auch schon um ein Stipendium beworben habe. Und zum Glück hat mir mein Agent vorher mein unsäglich schlechtes Exposé dreimal verrupft!
    Aus dem Alter, wo ich blind auf jugendlichen Größenwahn vertraue, bin ich raus ;-) Und dann fühlt man, was etwas werden könnte (wenn ich dem genügen kann - denn meist hapert es am Autor).

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