Lernstoff Lesung

Entschleunigen

Wer hier länger mitliest, wird wissen, dass ich fürs Schreiben öfter von einer Durchmischung unterschiedlicher Medien träume, weil Text so viel mehr kann, als sich zwischen zwei Buchdeckeln fortzubewegen. Eine neue Ebene erfahre ich ja derzeit mit dem Texten direkt für ein Hörbuch, das sich durch die veränderte Sinneserfahrung deutlich vom Printtexten unterscheidet. Ein anderer Lehrmeister sind mir Lesungen. Jetzt, nach der Sonderform einer "szenischen Lesung", habe ich wieder etwas mir vorher Unbekanntes gelernt: Entschleunigung. Auslagerung von Nicht-Mehr-zu-Textendem in den Körper.

Zufällig lese ich heute im Zusammenhang mit den Ballets Russes von einer Theatertheorie um das Jahr 1911, in der verlangt wurde, dass der Körper und seine ihm innewohnende Rhythmik zur obersten Maxime des Theaters werden sollte - und zwar auch für Tanz, Ballett und Oper. Die Anhänger dieser damals neuen Körperzentriertheit forderten sogar, dass nicht der Tänzer sich der Komposition zu unterwerfen habe, sondern der Komponist vor dem Komponieren der Körper gewahr werden müsse.
Was hat das mit Lesungen zu tun?

Entkörperlichen

SchriftstellerInnen sind eher "körperlose" Wesen. Wir sitzen den ganzen Tag in gleichförmiger Haltung vor dem Computer, vergessen die eigenen Formen und schlüpfen in ständig neue Fantasiekörper. Einige wenige eignen sich ihre Figuren auch körperlich an, wie das der Russe Konstantin Stanislawski - ebenfalls zur Zeit der Ballets Russes - gelehrt hat. Auch bei Lesungen, obwohl wir da endlich in corpore vor dem Publikum erscheinen, scheint das Fleisch weniger eine Rolle zu spielen als Stimme und Geist. So mancher Schriftsteller versteckt sich hinter dem schlabbrigen schwarzen Rollkragenpullover oder nuschelt sich sogar das letzte bißchen Hauch, das vom Zwerchfell aufsteigen mag - die Stimme - weg.

Solcherart entkörpert passieren einem die einfachsten Fehler: Man spricht vielleicht zu schnell, zu hastig, zu leise. Der Text wird nicht moduliert, die Stimme bleibt emotionslos. Vielleicht liest man den Text, als habe ihn ein Fremder geschrieben - als habe das alles gar nichts mit einem selbst zu tun.

Aussitzen

Nun habe ich so ziemlich das Gegenteil vom Vorlesen, sitzend hinter einem Tisch, ausprobiert. Stehen, gehen, sich bewegen, mit kleinen Requisiten agieren. Beim Proben habe ich böse erfahren, wie unsereiner den Körper vernachlässigt und selbst die aufregendsten körperlichen Aktionen in Texten nur "denkt", nur sehr scheinbar fühlt. Welch einen Nachholbedarf an Lernen und Üben habe ich da selbst noch nach der Premiere - die mir genau zeigt, wo die Schwächen liegen. Ist Schreiben wirklich Leben oder nicht vielmehr ein Aussitzen? Bei aller Empathie z.B. mit einem Flüchtenden erinnere ich mich nur ans Rennen. Warum bringe ich mich vor dem Schreiben eigentlich nicht außer Atem? (Klar, ich kann nicht alles durchleben, was ich Figuren antue).

Plötzlich fühle ich mich tappsig wie ein dicker Tanzbär. Aber wie ich beginne, Gefallen an dieser neuen Form zu finden, entdecke ich, dass der Körper die Texte verändert. In der Bewegung ist plötzlich nicht mehr alles so selbstverständlich sagbar, lesbar. Es gibt Texte, die sind für die Studierstube formuliert, oder fürs Liegen am Strand, im Bett. Es gibt aber auch Texte, die einem ins Gebein fahren, die einen tanzen machen, die den Körper in Bewegungen, in Haltungen zwingen und das Aussehen vollkommen verändern können. Wie würde sich erst ein Text anhören, der aus dem Körper herausgeschrieben wird - für den Körper?

Einfahren

Es gibt ein nettes Experiment. Man finde für die Emotionen eines Textes die adäquaten Bewegungen, Gesten, die passende Mimik. Und dann zwinge man sich zu deren Gegenteil und versuche, den gleichen Text passend dazu zu lesen! Oder ein abgewandeltes Spiel, wie es manchmal in Theaterkursen gelehrt wird: Man teilt einen leeren Raum in vier gleiche Teile (Klebeband auf Boden), die Emotionen verkörpern: Wut, Trauer, Glück, Angst oder etwas Ähnliches - Gegensätze müssen aufeinander folgen. Nun läuft man im Kreis durch diesen Raum und verinnerlicht in jedem Abteil das entsprechende Gefühl, versucht, es mit dem Körper stumm auszudrücken und darzustellen. Und jetzt lässt man einen ständig wechselnden Rhythmus vorgeben, durchläuft die Emotionen mal schleichend, mal extrem schnell. Dazu noch ein Text - welche Überraschungen!

Es ist eigenartig - die Bedeutung des Texts scheint plötzlich zu schrumpfen. Die Geste greift sich Raum. Für den Schriftsteller völlig ungewohnt, scheint sich das Geschehen enorm zu verlangsamen. Plötzlich wird einem die Rasanz bewusst, in der man sich beim stummen Lesen einem Text hingibt, weil das eben nur entkörperlicht gelingt. Allein die Stimme bremst diese Art des Erfahrens ab. Und sie ist noch zu schnell fürs Körperfühlen - oder auch nicht schnell genug.

Texte haben, selbst wenn sie von entkörperlichten Geistesbestien am Gänsekiel entworfen wurden, tatsächlich eine eigene Körperlichkeit. Sie machen einen rund oder eckig, zwingen zum Laufen oder kreisen um einen einzigen Punkt. Kann ich eigentlich einen Text ungeachtet seines Inhalts körperlich ausdrücken?

Ertanzen?

Was, wenn ich diesen Vorgang nun umkehre? Wenn ich aus Körperrhythmen und der Musik der Bewegungen Text schaffe? Kann man sich Texte ertanzen?

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2 Kommentare:

  1. Text und Körper, Spirit und Physis, eine immer wieder spannende Begegnung. Schon der Schöpfer schuf mit dem Wort die Sphären der Welt. Sprache und Geste entstammen denselben cerebralen Wahrnehmungsebenen. Wohl deshalb ist das Theater für viele Autoren so ein Faszinosum. Häufig jedoch wird, wie Sie, liebe Frau Cronenburg, skizzierten, der Text verkopft und klingt somit nur zwischen den Ohren, aber nicht in der Seele. Es sind quasi Quetschtexte.
    Beim Schreiben achte ich sehr auf Rhythmus und Melodie, gehe dabei auch körperlich mit, jedenfalls bin ich da häufig am Gestikulieren und Dirigieren, so durchlebe ich die Dynamik des Textens auch körperlich; und das gerade auch beim Sachbuch. Beim Vorlesen bevorzuge ich den stehenden Vortrag, er macht das Atmen freier und verhindert ein furchtverspanntes Zwerchfell samt verkrümmten Rücken bei gleichzeitiger Ausbildung einer Schnappatmung und dem möglichen abrupten Übergang zum Krächzen.
    Vortragskurse von ausgebildeten Schauspielern werden dagegen von Schriftstellerkollegen ebensowenig angenommen, wie Ratschläge, bei einer Lesung nicht im rabenschwarzen Schmuddellook als seine eigene Karikatur zu erscheinen. Man gibt sich eben gerne authentisch, was immer das auch für ein Klischee sein mag. Ebenso verhallen Empfehlungen, den Text vor dem Vortrag wenigstens dreimal laut daheim zu lesen und mit Graphen für Hebungen, Senkungen, Pausen, Dynamik zu versehen. - Derlei Abwehrhaltung zum eigenen Schaden ist für mich nicht nur unprofessionell, sondern auch respektlos gegenüber seinem Auditorium.
    Gute Nacht M.M.

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  2. Hach, das ist ein anregender Kommentar, wie man ihn erträumt, lieber Herr Mala! Ich dachte schon, diese Gedanken würde keiner verstehen...

    Und meine Wörtersammelkiste freut sich besonders über die "Quetschtexte", denn kürzlich suchte ich händeringend nach einem Ausdruck für ein Buch, das absolut geschliffen geschrieben war, aber irgendwie zu einem Ohr rein und zum anderen raus ging, ohne jede Berührung.

    "Wohl deshalb ist das Theater für viele Autoren so ein Faszinosum."

    Passiv sicherlich, aber auch aktiv? Scheuen nicht auch viele AutorInnen öffentliche Auftritte? Siehe Kurse...

    Dieses professionelle Auftreten (in Frankreich sind solche Ausbildungen übrigens völlig normal, blamabel, wer keine hat) sprach ich auch schon beim Beitrag zu den Lesehonoraren an. Ich bin der Meinung, wenn ich Geld verdienen möchte, muss ich auch etwas bieten. Wenn mir Publikum freiwillig einen ganzen Abend wertvoller Zeit und Aufmerksamkeit schenkt, dann soll es auch etwas von diesem Abend haben. Das fängt beim Auge an, geht übers Ohr bis zum Programm.

    Fast jedes Stadttheater bietet mittlerweile Kurse für Laien an, selbst Sprechausbildung im Einzelunterricht lässt sich bezahlen - und sie macht sich nachher mehrfach bezahlt. Kann ich nur dringend empfehlen. Meist entscheidet zwar zuerst der Name, ob man einen Auftritt bekommt, aber wenn man den nicht hat, kann man mit Professionalität punkten.

    Zum Glück habe ich als Gast bisher nur wirklich beeindruckende Lesungen erlebt (aus Mangel an Buchhandlungen im Grenzgebiet sind das aber meist freie Veranstalter) - allerdings arbeitete der Kollege, der mich das letzte Mal vom Stuhl gerissen hat, dann auch nebenberuflich beim Theater. Ergebnis: Ich habe an dem Abend gleich alle seine Bücher gekauft.

    Übrigens schön, dass hier jemand auch mal schreibt, dass Sachbücher genauso Sprache und Komposition brauchen wie Belletristik!

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