Carta, der Grimme-Preis und die Bücher

Das ist mal wieder typisch für Leserverhalten. Erst braucht es einen saftigen Preis, damit man auf gute Texte aufmerksam wird. In diesem Fall ist es der Grimme-Preis und der Preisträger heißt "Carta" - die Jury begründet: "Was die Website bietet, ist seriöser, unabhängiger und relevanter Journalismus, und sie ist auf dem Weg, eine medienpublizistische Marke im Web zu werden." Aus der Jurybeurteilung lässt sich gut herauslesen, was Blogs haben müssen, um in Richtung Qualitätsjournalismus zu weisen.

Beim Schmökern im Neuentdeckten fallen mir zwei Texte auf: Peter Glaser macht sich Gedanken über den künftigen Umgang mit den wachsenden Textmengen einer Gesellschaft, die das Schreiben zunehmend selbst in die Hand nimmt. Und Ulrike Langner rechnet mit der Attitude von Verlagen ab, isolierte Internetinseln zu bilden. Nutzerunfreundlich, wie die wachsende Beliebtheit von Buch-Communities bei LeserInnen beweist.

Lese ich beide Texte nebeneinander (dank Verlinkung!), fällt auf, dass Glaser genauso gut vom Buchmarkt sprechen könnte. Wir sind nicht nur Papst, sondern auch immer häufiger Schriftsteller. Ratgeber- und Kritikforen sprießen im Internet, die den Anschein erwecken, jeder Noch-nicht-Autor könne demnächst mit ein paar handwerklichen Kniffen auch gleich Deutschlands Superschriftsteller werden. Und Großverlage verkaufen Trendware, bis selbst das eigene Stammpublikum den Überblick verliert.

Nein, noch schlimmer. Buchkunden sind längst nicht mehr verlagstreu, kaufen nach Cover, Titel und (Marken)Namen. Gerade bei der Massenware werden Verlage immer austauschbarer (sind wir da wieder bei der Angst vor dem Verlinken?). Nur wenige Hardliner wie Diogenes oder kleinere Literaturverlage leisten sich eine beim Leser begehrte Corporate Identity (Beispiel), die perfekt zum Inhalt passt: Man findet die Bücher im Laden schon von weitem und wird als Fan vom Inhalt hinter dem Design selten enttäuscht. Altmodisch? Der bisher unverkennbare Aufbauverlag passt sich lieber an Wühltische an und auch Suhrkamp macht jetzt auf bunt und Fantasy.

Es passiert genau das, was Glaser und Langner sezieren. Leserinnen und Leser befinden sich auf See, die Textwellen schlagen hoch, schier unendlich scheint die Flut der Neuerscheinungen und will nicht abebben. Wer eine der großen Buchketten betritt, hält das Fernrohr am besten verkehrt herum, um durch gemachte Bestsellerstapel und Wühltischfluten nicht vom Wunschkurs abzukommen. Gnade dem, der genau weiß, wo er hinsteuert. Oder einen Sextant hat.

Dumm nur, dass ausgerechnet diese Navigationsgeräte ein wenig gealtert sind, weil jede Insel zwar lauthals ihr eigenes ultimatives, aber doch gewöhnliches Gerät anpries, gegen die eigenen hochgeblurbten bis gefälschten Werbewogen jedoch kaum noch glaubhaft anbrüllen kann. Längst haben Fähnlein Fieselschweif und andere Pioniere im Internet Basiscamps aufgeschlagen (Beispiele: 1-2-3), die hemmungslos nutzen, was der Buchmarkt scheut: Verlinkungen, Empfehlungen, Diskussionsforen. Fieselschweif fehlt es an Personal und Geld und Zeit, aber bekanntlich hat auch schon Huckleberry Finn den Mississippi mit einem Holzfloß überquert.

Trotzdem - auch hier entstehen Textfluten. Zwar organisiert man sich langsam in Eingeborenenstämmen auf Krimiinseln, Historische-Roman-Inseln, Liebesroman-Inseln, vergisst aber, dass der leibhaftige Leser mehr als nur sein Weihwasser berühren will - da locken so viele Lesesünden an fremden Ufern. Die Fähren mit dem großen F wie Feuilleton scheinen leider ebenfalls ein wenig in die Jahre gekommen zu sein. Kreuzfahrten fürs alternde Bildungsbürgertum sind angesagt. Aber welche Leser und Leserinnen erreichen sie, wenn Diskussionen um Literaturen, die man anfassen dürfe, und Literaturen, die eines wahren Seebären unwürdig seien, den Blick auf den weiten Horizont verstellen?

Zur Textflut kommt nun außerhalb der Verlagsinseln plötzlich noch ein Linksturm auf. Tante Erna verlinkt ihren romantischen Lieblingshafen in Hardcover, Onkel Ernst knallt seine neue Liebe gleich in drei Netzwerke und irgendwer, vielleicht der Autor selbst, hat ein halbes Dorf bezahlt, um sein Buch überall zu empfehlen. Die Netzwerk freuen sich und schreien im Chor, um ihre garantiert googlebeständigen GPS-Systeme zu verkaufen. Die können zwar mittlerweile Handlungsplätze in Romanen orten oder finden Unverblümtes von Autoren im Web, die sich zu privat geben. Aber richtig wegweisend auf hoher Textsee ist das Netzwerk-Chaos nicht.

Wo treibt die christliche Seefahrt hin? Darf man Prognosen glauben, die uns gleichzeitig erklären, der Golfstrom würde seine Bahn ändern? Wer bleibt oben, wer geht unter? Wird das massenhaft wuselnde Plankton über die Zukunft bestimmen oder der Wal? Wen soll man retten, wer ist noch zu retten?

Noch macht es manchmal Spaß, als unbedarft schippernder Leser an einem fremden Strand aufzulaufen und sich wie Robinson Crusoe durch die Seiten zu schlagen. Aber wenn es einen dann dreimal neben die wirklich geliebten Perlen ins Abseits verschlagen hat, stirbt die Lust am Austernsammeln bekanntlich zuerst. Noch halten kleinere und anspruchsvollere Verlage durch, indem sie in der Hoffnung auf eine frische Brise Mundpropaganda produzieren, im innigen Glauben an das rechte Buch zur rechten Zeit am rechten Ort.

Jeder Schiffer weiß: So kann man auf Dauer nicht navigieren. Da war schon einmal der Glaube an die Moderne und den Profit, die rechte Strecke und die eingebildete Bestimmung. Und dann erhob sich plötzlich wuchtig der Eisberg vor dem Luxusliner.
Vielleicht sollten wir alle schleunigst fliegen lernen und uns das alles einmal von oben anschauen?

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