Wodka oder Literatur

Wodka

Gestern hörte ich die anscheinend neuesten Zahlen im Fernsehen: Vierzig Prozent aller gestandenen russischen Mannspersonen saufen sich zu Tode. Die Lebenserwartung der Männer liegt in Russland niedriger als in Bangladesh, nämlich im Durchschnitt unter 60. Und es gibt auch schon Studien, die sich damit beschäftigen, ab wann Wodka & Co. eine Kultur und Wirtschaft so nachhaltig schädigen können, dass sie sich nicht mehr selbst regenerieren können. Über die Wodkasauferei ließen sich politische und philosophische Überlegungen anstellen, denn die gibt es nicht nur in Russland, sondern in unterschiedlicher Stärke in den meisten ehemals kommunistischen Ländern, auch in der DDR hat man lieber Schnaps als Spitzenweine gepichelt. Aber selbst die Franzosen tendieren seit Sarkozy auffällig zum Wodka statt Whisky (der einst den Cognac ersetzte).

Erklärungen gibt es so viele wie Flaschen. Die meistgehörte in Polen neben der Winter-Dunkelheits-Theorie war die, dass Wodka die billigste, selbst zu fertigende Droge war, mit der man sich ein kurzes Scheinvergnügen und vor allem eine innere Flucht erkaufen konnte, als andere Auswege nicht zu haben waren. Auswegslosigkeit. Hoffnungslosigkeit. Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Die kleinere Hölle wählen. In einem Irrgarten nicht mehr wissen, wohin. Flüchten wollen. Existenz als Bürde. Und eine Sehnsucht nach Menschen - gesoffen wird nämlich in Gruppen, am Anfang zumindest.

Literatur

Ja, es geht tatsächlich um Bücher. Wer Literatur aus dem Osten (und Skandinavien!) liest, muss sich nämlich oft mit der Sauferei herumschlagen. Bei den russischen Klassikern mutet das noch wie eine verbogene Romantik ferner, unvorstellbarer Zeiten an. In den ersten Krimis von Polina Daschkowa geht es dagegen bis an die Schmerzgrenze (die späteren sind gefälliger zurechtgemacht). Einige hochgepriesene literarische Werke halte ich wegen der Depressionen und Sauferei nicht aus. Weil ich die tiefe Wodkadepression in Polen erlebt habe, auch wenn das Umfeld selbst nicht auf Droge war. Aber ich habe sie erlebt, die Gestalten, die ihr letztes Geld in vergällten, stinkenden Methylalkohol und eine Scheibe Schwarzbrot umsetzten, wobei sie letztere nicht aßen, sondern als angeblich wirksamen chemischen Filter benutzten. Und auch ich bin irgendwann abgestumpft angesichts der Zahlen von an Wochenenden von der Tram zermatschten Wodkasäufern, die sich regelmäßig im Vollrausch zu einem Schläfchen auf die Gleise legten. Bücher mit einer solchen tiefen Depression ziehen mich runter.

Ein drastisches, sehr realistisches, streckenweise ungeheuer depressives Buch dieser Art ist "Das Sägewerk" des jungen polnischen Schriftstellers Daniel Odija. Trotzdem habe ich es regelrecht "gefressen", denn es ist auch magisch, poetisch, von einer ungeheuer kraftvollen Sprache. Es spielt in einer polnischen Provinz, die Urlaubern wie ein Idyll vorkäme und genauen Betrachtern unerträglich wäre, aber Odija schafft es, auch über uns zu schreiben. Im Grunde ist es nämlich eine sehr europäische Geschichte.

Józef, Sägewerksbesitzer, lebt in einem einst von einer Kolchose beherrschten Dorf, in dem Armut und Aussichtslosigkeit grassieren. Die früher Befehle erteilt haben, sind nicht mehr, die Menschen haben nicht gelernt, selbstständig und vorausschauend zu denken. Im Suff erscheint die Vergangenheit im Zwangssystem goldener als die Zukunftsaussichten. Józef entwickelt sich zum Schmalspuroligarch, kommt zu etwas Reichtum und Macht, aber auch er ist nur ein Rädchen im neuen System. Er scheitert, weil er seinen Aufstieg auf Kosten anderer erreicht hat - und das ist das einzig Hoffnungsvolle in dieser Welt des Umbruchs. Der 2003 in Polen (2006 in D.) erschienene Roman ist von einer erstaunlich aktuellen Brisanz: Was sich da im Kleinen zwischen den Wodkagläsern abspielt, ist wie Turbokapitalismus im Reagenzglas. Irgendetwas ist unterwegs verlorengegangen - und das scheint in diesem Buch sehr mythisch immer wieder durch.

Heiter-melancholisch bis sarkastisch-witzig ist dagegen Andrej Kurkow zu lesen, ebenfalls ein Schriftsteller der neueren Generation, geboren im russischen Petersburg und seit seiner Kindheit im ukrainischen Kiew lebend, wo auch seine Bücher spielen. Seine kurzweiligen und unterhaltsamen Bücher werden als Krimis oder sogar Thriller gehandelt, ersteres sind sie kaum, letzteres schon gar nicht. Aber das, was er wirklich schreibt, nämlich absurde Literatur mit einem fantastischen Einschlag, kommt im deutschen Marketing wohl nicht so gut...

Seinen Roman "Picknick im Eis" hätte ich wahrscheinlich wieder weggelegt, wenn mich nicht dieser Pinguin gefangen genommen hätte. Denn die Geschichte selbst beginnt ruhig, eher nebensächlich, und wie schon einmal dagewesen. Viktor ist ein Tagträumer und Möchtegernschriftsteller, statt zu arbeiten, schreibt er für die Schublade am großen Roman. Irgendwie ist er unfähig zum Leben zwischen den Neureichen und Mafiosi, aber er hat Herz. Viktor beherbergt in seiner Wohnung einen Kaiserpinguin - der Kiewer Zoo hat aus Geldmangel Tiere verschenken müssen. Eigentlich ist der Pinguin das einzige Wesen, mit dem er zu kommunizieren versucht.

Um ihn und sich zu ernähren, greift er bei einem Jobangebot zu. Für eine Zeitung soll er Nekrologe über bekannte Leute schreiben, so dass der Nachruf fertig ist, falls sie einmal ableben sollten. Er schreibt also wieder für die Schublade, aber außergewöhnlich gut bezahlt. Und plötzlich stirbt der Mann aus dem ersten Artikel. Jemand gibt ihm noch mehr Geld und lädt seine kleine Tochter bei ihm ab. Viktor ist überfordert, der Pinguin soll's richten. Ehe er sich versieht, ist er in einem undurchschaubaren, mafiösen Netz und einer Scheinfamilie gefangen. Nicht so einfach zu lösen, denn da sind Mafiosi mit Herz und Mafiosi ohne Herz und dann wird auch noch der Pinguin herzkrank. Viktor hat nichts besseres zu tun, als einen Weg zu finden, seinen Pinguin mit offensichtlich schmutzigem Geld operieren zu lassen und in die Antarktis zu fliegen. Vielleicht käme auch er so heraus aus dem Schlammassel?

Mehr wird nicht verraten, denn das Buch endet mit einem Knalleffekt, der so typisch für Kurkow ist. Was man anfangs als ruhige, alltägliche Geschichte gelesen hat, erhält plötzlich doppelte Böden und absurde Finten. Hinterher fühlt man sich selbst vergnüglich und hintergründig ertappt. Und das Kiew, in dem sie ständig alles beim Wodka erleben, planen, versäumen oder trotzdem tun, scheint gar nicht mehr so weit weg. Noch zwei Tage lang habe ich mich heimlich umgeschaut, ob mir ein Königspinguin folgt.

Noch mehr gesoffen wird in Kurkows Roman "Ein Freund des Verblichenen" und so eine Idee kommt einem nüchtern auch nicht so schnell: Tolja ist vom Leben enttäuscht, seine Frau betrügt ihn offen und will ihn verlassen, einen Job hat er nicht, die Flasche will er nicht mehr. In einem Anfall von Wodkadepression entschließt er sich zum Selbstmord, aber dazu braucht es Mut - und den hat er auch nicht. Tolja ist nämlich ein echter Versager. Zum Glück lebt er in einer Welt, in der Menschenleben nichts wert sind und Mörder gedungen werden können wie anderswo Gärtner. Tolja bezahlt anonym einen Berufskiller und setzt ihn auf sich selbst an. Wieder im Wodkadusel gabelt er kurz vor seinem geplanten Ableben eine Prostituierte auf, die ihm gefällt. Das Leben könnte vielleicht doch schön sein? Aber wie stoppt man einen Auftragskiller?

Am Tag, als Tolja sich selbst hinrichten lassen will, geht alles schief. Er wird selbst zum Mörder. Und auch hier wieder doppelbödige absurde Verwicklungen in einem System, in dem Suff, Kriminalität und Menschenverachtung an der Tagesordnung sind, in dem keiner mehr die eigenen Verstrickungen durchschaut, geschweige denn sauber zu halten weiß. Kurkows Lösung der problematischen Lebensbedingungen ist so einfach wie schön, weil sie zutiefst menschlich ist. Es gibt noch Hoffnung auch im tiefsten Unten.

Das andere Buch will ich nur nennen und später extra besprechen. Es passt in diese Reihe auch nur deshalb, weil gleich zu Beginn eine Wodkaleiche auftaucht, deren mythisch-tragische Existenz geschildert wird. Das Buch selbst ist der mit dem höchsten polnischen Kulturpreis ausgezeichnete Roman "Taghaus Nachthaus" der Polin Olga Tokarczuk, die für mich im vergangenen Jahr die große Neuentdeckung war und deren Bücher ich nicht aus der Hand legen kann. Hier will ich nur kurz das Geheimnis lüften, warum ich zunächst dachte, ihre Bücher seien auf Deutsch nicht zu haben. Aus unerfindlichen Gründen sind vier Bücher auf drei Verlage verstreut: DVA, Berlin Verlag und Schöffling. Leider geht der Dienst am Leser nicht so weit, dass jeder Werbung auch für die anderen macht. Zu diesem Buch also mehr, wenn ich es genüsslich gelesen habe.

Lesetipps:
Daniel Odija: Das Sägewerk, Zsolnay

Andrej Kurkow: Ein Freund des Verblichenen, Diogenes
Andrej Kurkow: Picknick auf dem Eis, Diogenes
Olga Tokarczuk: Taghaus Nachthaus, DVA
Olga Tokarczuk: Unrast, Schöffling
(Tokarczuks Erzählband "Der Schrank" erschien bei DVA, der Roman "Ur und andere Zeiten" im Berlin Verlag - zum Glück ist die Übersetzerin Esther Kinski immer die gleiche.)

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