Fluchtpunkt Baden-Baden
Gestern habe ich wahrgemacht, was ich hier so großmundig verkündete. Anstatt in Deadline-Hektik zu hyperventilieren, stahl ich mir einen halben Tag, den ich mit einer fälligen Bibliotheksrückgabe rechtfertigte. So ganz cool bin ich eben doch nicht. Aus dem von Frank Peters im Blog angekündigten Sonnenschein fuhr ich dann ... in düsteres, deprimierendes Schwarzwaldgrau, die Schneefelder auf den Höhen im Blick. Aber ich wollte ja ohnehin zum Wellnesszentrum von Autoren und Leseratten. In der Stadtbibliothek arbeite ich derzeit am Ruf, als Autorin öffentliche Bibliotheken zu unterstützen, indem ich ständig Nachgebühren zahle - das wird mit schneefreien Straßen hoffentlich anders. Darum musste ich natürlich gleich wieder Lesestoff mitgehen lassen, unter anderem den Baden-Baden-Roman von Carsten Otte "Sanfte Illusionen".
Ein Altstadtbummel musste auch drin sein. Ich gehe gern in Baden-Baden einkaufen. Nicht in den Läden, in denen Schals aus pink- und giftgrün gefärbtem Zobel genäht sind oder ein T-Shirt dreistellige Summen kostet. Es gibt zum Glück noch die "normale" Stadt, allerdings mit einem unwahrscheinlich freundlichen Einzelhandel (oder habe nur ich das Glück?). Die Parfümerieverkäuferin, bei der ich mich für die schöne und geduldige Geruchsreisen-Beratung zu den Ballets Russes bedanken wollte, war leider nicht da.
Aber meinen Lieblingstee Marke Samowar bekam ich wieder und war nun doch zu neugierig, woher dieser feine rauchige Geschmack kommt, der so typisch ist für diese Mischung. Die Verkäuferin nahm sich Zeit, nahm mich auf eine Nasenreise nach China und zeigte mir, was die Russen einst importierten. Wir lachten über einen geräucherten Tee, der sie an Schwarzwälder Schinken erinnerte und den ich am ehesten in eine Pfeife stopfen würde. Und gute Beratung macht sich bezahlt. Natürlich verließ ich den Laden mit dem Geheimnis, das im Samowartee stecken mag: einem China Keemun Finest Chuen Ch'a.
Das ist das Gefährliche an dieser Stadt: sie verführt mich. Die eingefleischte Kaffeetrinkerin endet beim Teekauf. Die realistische Pragmatikerin fällt in der Lichtentaler Allee (Fotos) grundsätzlich ins 19. Jahrhundert und glaubt, Turgenjew oder Dostojewskij an der Kurpromenade tuscheln zu hören. Vor dem Viktoriahaus scheinen sogar die Länder zu wechseln. Manchmal ist Baden-Baden russisch, manchmal japanisch oder polnisch, dazu die Muttersprache badisch ... Manchmal ist Baden-Baden ein juwelenbehängtes Altenheim, dann jagt wieder eine übergroße Limousine die andere, im Schritttempo selbstverständlich. Wenn einem auf der Straße jemand bekannt vorkommt, weiß man nie genau, ob es sich um den Apotheker handelt oder um einen Prominenten. Ich falle von einem Extrem ins andere: plastiktaschenbepackte Arme oben an der Straße bei den Billigmärkten, Menschen in Maßklamotten mit Bodyguards unten an der Straße, wo die Nobelboutiquen liegen.
Vielleicht ist es das, was mich als Schriftstellerin reizt: ich habe die verquersten, verrücktesten und extremsten Welten an einem einzigen idyllischen Fleck. So wie die Müllhaufen in den Teichen am Augustaplatz und dessen am hellichten Tag flanierende Ratten kaum vermuten lassen, dass ein paar Minuten entfernt Millionen in einem der schönsten Casinos von Europa verspielt werden. Baden-Baden ist ideal für Autoren. Es bietet die nötige Ruhe fürs Nachdenken und traumhafte Plätze fürs Notieren. Wofür man sich anderswo schämt, das ist hier Programm: Menschen beobachten. In einer Stadt, in der Sehen und Gesehenwerden zum Alltag zählt, kann man hemmungslos dem schriftstellerischen Voyeurismus fröhnen - und geboten bekommt man einiges. Das Leiden hinter den mühsam aufrechterhaltenen menschlichen Fassaden ebenso wie erstaunliche Einfachheit im Gepränge. Unbeeindruckte Einheimische und schleimige Schmarotzer. Business, das sich am Dienstboten-Code des vorletzten Jahrhunderts orientiert. Gossenseelen in Maßschuhen und Schönheiten in Jeans.
Und immer wieder Überraschungen, selbst für mich, die ich die Stadt von Kindesbeinen an kenne. Noch eine Gasse sollte es sein vor dem Heimfahren, nur noch eine kleine Gasse. Ein winziger Laden fiel mir auf, in den Schaufenstern Rosen, Nippes, Sammlerstücke. Ich war da noch nie. Was mag das für ein Laden sein, dessen Front aussah wie der Buchladen im Lavendelblues? Sogar Ölbilder hingen an den Wänden! Mein Blick fiel auf ein handgeschriebenes Schild. Das besagte in etwa, dass man sich häufig den Psychiater sparen könne, wenn man sich bei einem Friseur so richtig verwöhnen lasse. War ich nicht im Deadlinestress? Die Idee mit dem Psychiater kam genau richtig!
Wieder konnte ich nicht widerstehen, zumal es längst nötig war. Ich kam zum entspanntesten Haarschnitt seit Jahren, in einem Rosenambiente, das aus Dahlias Geschäft hätte stammen können. Ich begriff das nicht gleich, war einfach nur verzaubert und schwebte in einer anderen Welt. Erst auf der Heimfahrt durch besagten Tunnel fiel es mir auf, wie seltsam es doch ist, sich quasi im eigenen Roman die Haare schneiden zu lassen.
Das ist übrigens der Grund, warum ich in der Stadt dauerhaft nicht leben könnte: Ich fürchtete, irgendwann Realität und Fiktion nicht mehr auseinanderhalten zu können. Vielleicht habe ich aber auch nur Angst, aus Versehen berühmt zu werden. Wenn man es schon mit einem einfachen Unterhaltungsroman in eine Liste (ganz unten) mit Brahms, Gergiev und Twain schafft, das kann doch wirklich nicht normal sein! Aber vielleicht hilft dagegen auch der Friseur, der eigentlich ein Psychiater ist?
Ha, absoluter klasse Beitrag heute - loest fuer mich ein Problem welches nach Ostern kommt - Geburtstagsgeschenk fuer Frau Mama!
AntwortenLöschenMerci!
Wenn es das ist, was ich denke und Sie vorher zur Buchhandlung Strass neben dem Löwenbräu kommen, bekommen Sie es signiert!
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