Keine Ausreden mehr
Was für ein Tag. Chopins Geburtstag werde ich nicht mehr so schnell vergessen. Vor und nach gewissen Katastrophennachrichten habe ich das Jubiläumskonzert bei ARTE goutiert und dann auch noch Heimweh bekommen.
Chopin in Warschau in den Neunzigern - das war tiefste Winterdepression zwischen Kopfweidentristesse und rostigen Fernwärmrohren neben seinem einstigen Haus. Madame sprach im Tagebuch damals von "unendlicher Kohlentrauer", "Todesherzen" alter Kastanien und Melodien von Birkenwäldern am Schnitt von Gleisen. Dazu trank man edlen Chopin-Wodka.
Chopin in Warschau - das war auch Sommererlösung nach den unendlich scheinenden Wintern, das waren die weißen Nächte und vor allem - die Sonntage. Unter dem Chopin-Denkmal im Lazienki-Park spielten Studenten an einem Flügel im Freien Chopin, um sich für den gleichnamigen renommierten Preis fit zu machen. Ganze Familien pilgerten zum kostenlosen Zuhören, mit Picknickzubehör. Chopin, das war laue Luft, eine Decke im Gras, Treffen mit Freunden und Picknick. Dazu trank man einen grauenhaften russischen Sekt, der nach vergorenem Brot mit Äpfeln schmeckte.
Und das war alles gestern wieder da bei diesem göttlichen Konzert. Alles außer dem Wodka. Und da war noch etwas - dieses Gefühl, dass man in jenen Jahren gegen jedes Besserwissen fröhlich und mutig improvisiert hat, weil außer Improvisation sowieso kaum etwas funktionierte. Geklagt hat man nur, um sich in die rechte Laune zu bringen, die einen von unterm Tisch hochbrachte, um gleich wieder auf dem Tisch zu tanzen. Ansonsten hat man gemacht. Nie gewartet.
In diesem Zusammenhang fiel mir gestern an meinem eigenen Blogeintrag etwas auf: Es gibt weniger Hindernisse als Ausreden. Die Tatsache, dass ich endlich ganz "mein" Projekt schreibe, sollte gar nicht dazu passen, dass ich vor zwei Deadlines rotiere und eigentlich weder Kraft noch Zeit übrig haben dürfte. Trotzdem gerät es ausgerechnet jetzt. In Situationen, die sich kaum planen lassen, im größten Durcheinander. Und als ich meinen Text noch einmal durchlas, war ich zum ersten Mal spontan zufrieden.
Es gibt nur Ausreden, nicht schreiben zu können, weil die Zeit nicht reicht, weil man so viel Wichtigeres zu tun hat, weil das und das noch ansteht, weil die Chancen schlecht stehen, weil der Markt verrückt spielt, weil der Druck zu groß ist oder die Familie ruft. Wer wirklich schreiben will, tut es. Und wird zum Dieb: zum Zeitdieb. Wie damals als Kind, als man sich mit der Taschenlampe unter der Bettdecke Lesezeit gestohlen hat.
Es gibt nur Ausreden, nicht so schreiben zu können, wie man sich das erträumt. Weil doch der Markt, die Lektoren, die Leser, die Vertriebsleute, die Verlage überhaupt... Immer sollen die anderen schuld sein. Immer sollen da im Nebel draußen irgendwelche Leute unken. Sebstverhinderung? Warum denken wir in solchen zweiflerischen Momenten nie daran, dass auch die anderen immer wieder versagen können? Wie viele Verlage gehen kaputt, wie viele Bücher werden falsch platziert, nicht platziert, tot geboren?
Ich übersetze gerade ein Buch, in dem Künstler hungerten und froren, aber nie warteten, sich nie irre machen ließen, sich nie anpassten: sie machten einfach. Hungerschmerz war vielleicht eine kurzfristige Ausrede, aber "keine Zeit" oder "das wird ja doch nichts" war nie eine. Kann es sein, dass es uns manchmal zu gut geht, wenn wir zu viele Ausreden haben, uns zu sehr anderswo verzetteln?
Eigentlich schreibe ich das alles nur, um den Doctores noch zwei Sprüchlein zu schenken. Das eine hat Andrej Tarkowskij über den Künstler an sich geschrieben:
"Es gibt für ihn keine andere Existenzgrundlage als zu erschaffen. [...] Nur das Vertrauen in sein Ideal kann ihm versichern, dass sein Handeln richtig und notwendig ist. Das Vertrauen ist das Einzige, das seine Systematik von Bildern bestätigen kann. Mit anderen Worten: die Systematik seines Lebens."
Das Zitat ist aus seinem Buch "Die versiegelte Zeit", in der Form hier allerdings von Filmuntertiteln mitgeschrieben. In jenem Buch zitiert er auch Pasternak und der klingt jetzt zum Abschluss so richtig wie Chopinmusik:
"Schlafe nicht, Künstler, schlafe nicht. Gib nicht dem Schlaf dich hin. Du bist der Ewigkeit Geisel und ein Gefangener der Zeit."
Hach, bin ich heute triefend. Tja, regentriefende Trauerweiden in Zelazowa Wola und Kohlenstaub in der Luft...
(leider verweigert mir dieses Blog die polnischen Akzente)
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"Chopin in Warschau - das war auch Sommererlösung nach den unendlich scheinenden Wintern, das waren die weißen Nächte"... Ja, es waren diese Sommer, in denen ein ganzes Volk nicht mit den Füßen auf den Boden reichte, den Sommer, die Kultur, hie ein Konzert, da ein Festival zelebrierte, dikutierte, bierernst und doch völlig abgehoben, feierte, als ob es kein Morgen gäbe und trotz aller Zukunftsängste den Neuanfang voller Lust startete und beschlossen hatte, einfach mal ein paar Sommer lang aus dem Vollen zu leben .... Ach ja, Anfang der 90er schien alles noch möglich, alles war offen ...
AntwortenLöschenDas ist so wundervoll treffend beschrieben! Irgendwie war damals alles möglich, weil nichts zu funktionieren schien. Heute erkenne ich selbst auf Fotos kaum etwas wieder, dabei sind so wenige Jahre vergangen.
AntwortenLöschenAuch wenn sie schwer zu leben sind, Umbrüche haben etwas Faszinierendes.
Wir könnten das eigentlich immer und überall haben: LEBEN.