Autoren und ihre Tagebücher

Eine gewisse journalistische Spezies macht immer mal wieder Blogger als überflüssige "Tagebuchschreiber" verächtlich. Sie übersieht, dass die deutsche Bloggerszene ursprünglich aus dem Journalismus entstand, vor allem aber, dass auch Tagebücher einst auf Papier geschrieben wurden. In Schulhefte, in liebevoll gestaltete Kladden mit Vorhängeschloss, in bibliophile Kostbarkeiten. Tagebuchschreiben - das ist in den Augen solcher Leute etwas für Tante Erna und klein Peterchen und vor allem für Pubertätsgeplagte. Wer nach dem achtzehnten Lebensjahr - womöglich öffentlich - davon berichtet, was er am 21.3.2010 gegessen und erlebt hat, ist entweder meschugge oder trägt zum Untergang des Abendlandes bei.

Nur ein einziger Berufsstand darf auch öffentlich meschugge sein und wird dann dafür von Journalisten interviewt. Herausgekommen ist dabei eine Reihe über Schriftsteller und ihre Tagebücher in der ZEIT; gestandene, erwachsene Menschen wie Karen Duve, Peter Kurzeck, Andreas Maier, Brigitte Kronauer, Martin Mosebach, Hanns-Josef Ortheil und Peter Stamm gestehen ihren Umgang mit dem Intimsten. Das - ähnlich wie beim Blogger - so intim nicht ist, schließlich sind sie Schriftsteller. Lesenswert!

Und immer wieder habe ich schmunzeln müssen, weil ich mich öfter selbst wiederfand. Mein Tagebuch aus Schulzeiten las sich ähnlich dämlich wie das von Peter Stamm, was ich nie als Hinweis auf ein mögliches Talent gedeutet hätte. Auch ich habe alte Tagebücher verbrannt wie Karen Duve, um mit Jugendphasen abzuschließen und wirklich effektiv jede Überlieferung für die Nachwelt unmöglich zu machen. Nie würde ich ein Buch verbrennen können, aber ein Tagebuch - das hat etwas vom Phoenix aus der Asche.

Irgendwann konnte ich keine Tagebücher mehr schreiben. Da war ich Autorin. Ich sammle zwar meine Terminkalender, um nachträglich wichtige Ereignisse rekonstruieren zu können. Sie dienen mir auch als Rechercheunterlage, weil ich, völlig absurd, täglich die Wetterlage notiere und das Aufblühen besonderer Pflanzen. So eine Art Gartenkalender, in dem ich nachschlagen kann, bei welchem Sturm eine Romanszene 2002 spielen könnte; in dem ich mich winters versichern kann, dass ein neuer Frühling kommen wird; in dem ich die Hysterie der Menschen und Medien ad absudum führe, die trotz besseren Wissens behaupten, ein Sommer sei extrem heiß und ein Winter eine Eiszeit gewesen. Ausrede für diese Zeitverschwendung: Ich könnte einmal über eine Wiese im Juni schreiben müssen und dann nicht wissen, was da blüht.

Wollte ich mehr über mich selbst festhalten, geriete es zur Inszenierung, zumindest einer formalen. Ich kann nicht mehr nicht-ausformuliert schreiben. Solche Spontantexte müsste ich sprechen, denn sobald Worte sichtbar werden, spiele ich damit, setze sie um, streiche, schreibe um. Mein Blog ist insofern Tagebuch, als es wiederspiegelt, was mich an einzelnen Tagen für mindestens eine Stunde beschäftigte. Aber das stimmt so auch nicht. Manchmal frage ich mich nur: Was könnte meine Leser heute beschäftigen? Unlängst fragte mich ein Leser, wie viel davon eigentlich geflunkert sei, die Geschichte mit dem dauerbetrunkenen Dorfgehilfen sei schon fast zu romanesk gewesen. Die Geschichte ist echt, erlebt. Aber schreibe ich sie vielleicht anders auf? Erlebe ich womöglich anders? Kann man Wahrheit und Wirklichkeit inszenieren?

Wie Ortheil habe ich ebenfalls eine Art Kladdenlaster. Ich kaufe oder bastle prunkvolle, sehr dicke Notizbücher, die ich in unregelmäßigen Abständen befülle. Da ist ein ganz großes Heft mit dem Titel "Das pralle Leben". Darin finden sich Skizzen zu irgendwelchen Gartenpflanzungen, Schilderungen von äsenden Rehen im Morgennebel, Kochrezepte, alles mögliche an "Sinnenzeug". Als Schlechtwetter-Lektüre nicht übel. Dann ist da die "Wort-Schatzkiste", die in Schulzeiten noch wirklich eine Schachtel voller Zettel war. Ich sammle darin besondere Wörter. Seltene Wörter, wohlklingende Wörter, kuriose Wörter, Wörter, die ich schon immer mal benutzen wollte. Eine Schublade ist schlechten Zeiten vorbehalten, falls ich mal wieder an mir und meiner Arbeit zweifeln sollte: Darin liegen die positiven Rezensionen und nette Leserbriefe, nennen wir sie mal "Aufmöbelkiste".

Dann ist da ein kleinformatiges Notizbuch, das ich überall mit mir herumschleppe. Ich nenne es "Schwammbuch" und es birgt das Geheimnis, dass Autoren wahrscheinlich tatsächlich anders wahrnehmen. Diese Wahrnehmung lässt sich leider auch mit Feierabend nicht ausschalten, man ist damit geschlagen und gleitet mit den Jahren immer tiefer hinein. "Schwamm", weil ich wie ein solcher durchs Leben gehe. Ich kann nicht unbeteiligt durch eine Fußgängerzone laufen. Ich bin danach prallvoll mit Menschen, Gesten, kleinen Szenen. Das ist nicht immer gemütlich, denn es sind immer die Extreme, die ich wahrnehme - das Normale scheint mein Hirn irgendwie auszublenden - oder dafür Geschichten zu erfinden, die schon wieder nicht normal sind. So war das mit dem betrunkenen Gemeindearbeiter - hätte er nüchtern seine Arbeit gemacht, hätte ich ihn nicht gesehen. Mich reizt das Absurde.

An freien Tagen gehe ich manchmal vorsätzlich als Schwamm irgendwohin und notiere dann in einem Park oder Café, was mir auffällt. Und dieses Skizzieren ist immer ein schriftstellerisches, immer mit dem Hintergedanken notiert: Das könntest du eines Tages in einem Buch brauchen können. Da stehen dann Sachen drin wie:

"Inhaberin eines Stoffladens. Ein kleiner knubbeliger Stoffballen von Mensch, fleischige Nase, schwarz, intensive Augen, ausladend in Körper und Gestik."

"Baden-Baden. Regenschirme im Sonderangebot, ältliche Damen scharen sich darum. Die Regenschirme und die Damen tragen Pelzbesatz!"

"Roccos Welt hat eine Tiefe mehr als die meine. Mit seiner Spürnase kartgrafiert er unterirdische Welten, mit seinen Ohren erlebt er Mausfluchten und Maulwurfmühen."

"Mann mit basedow'schen Augen, das eine leicht schielend, Hamsterbäckchen, kurzärmeliges, gestärktes (!) weißes Hemd, trägt Miniköter auf dem Arm, der das gleiche nasenzugespitzte Frätzchen hat - und vor allem die gleichen hervortretenden Glubschaugen."

Es gibt darin eine Frau, deren Mann als Notfall ins Krankenhaus kommt, und die überall herumfragt, wie sie sich die Haare machen lassen sollte für einen Besuch dort, eine Frau, die wegen ihrer immensen Busenvergrößerung und diverser Liftings eine stützende Begleiterin braucht, eine sprühende, lebenslustige Töpferin, verzweifelte Entliebte auf einem Bahnhof, zwei ältere Frauen, die sich gestehen, dass sie keine Körper anfassen können, einen betrügerischen Metzger, einen Eigenbrötler, der sich zuerst die Füße verbrannt hat und dann erfroren ist, einen Alzheimerkranken, der pünktlich zur Arbeit erscheinen will, eine geglimmerte Frau um die Fünfzig im Polyesterabendkleid, die erotische Gedichte für junge Männer schreibt...

Die Liste ließe sich endlos fortsetzen und würde nur eines beweisen: Schriftsteller führen ein viel zu langweiliges, eintöniges Leben, um Tagebücher zu schreiben. Aber das, was sie sehen, wie sie es herauspicken und später dramaturgisch verändern, ist eigentlich viel zu spannend, um es in Privatbüchern vermodern zu lassen.
Brigitte Kronauer hat es so schön ehrlich auf den Punkt gebracht:
"Man mache sich nichts vor: Schriftsteller hoffen, wenn sie »ganz für sich« über ihre Tagesverläufe berichten, nicht nur auf Selbsterforschung, sondern auf das Literaturarchiv Marbach und ein lüsternes Publikum."

3 Kommentare:

  1. what a fantastic video / adverstisement!

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  2. Hallo mal wieder :)

    Seit ich mich als Texter/Fachjournalist für Sach- und Fachtexte "etabliert" habe, schreibe ich nichts mehr, was auch nur entfernt einem Tagebuch ähneln würde.

    Private Notizen bekommen der Übersicht wegen eine tabellarische Struktur verpasst.

    Ich mag nichts mehr schreiben, was nicht strikt auf Informationsvermittlung ausgerichtet ist. Außerdem schreibe ich nur noch am PC. Handschriftliche Aufzeichnungen beschränken sich auf Stichworte.

    Schreiben ist für mich nun Beruf. Was definitiv nicht heißt, dass es keinen Spaß mehr macht. Ich liebe das, wenn ich in den Flow gerate. Da bin ich "zuhause".

    Die Schilderung im obenstehenden Blog-Posting gefällt mir aber sehr. Vor allem das mit dem "Schwamm". Für Autoren ist das sicherlich sehr nützlich. Vor allem dann, wenn das Gehirn die eingefangenen Momente/Situationen/Personen mit Assoziationen anreichert und sich daraus dann etwas machen lässt.

    einen angenehmen Montag wünscht
    J. Eichenseher

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  3. Das mit dem "Schreiben ist nun mein Beruf" ist schön beschrieben - ich erlebe das, wenn Leute jammern, ich würde ihnen nicht schnell genug zurückmailen, obwohl ich doch im Blog schreibe (ergo genug Zeit hätte). Privat mag ich abends manchmal keinen einzigen Buchstaben mehr tippen und telefoniere lieber.

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