Das richtige Buch zur richtigen Zeit
Romane schreiben als das Kosten von der Fülle der Welt - dieser Gedanke steht in einem Buch, dass ich schon nach nur 76 Seiten heiß empfehlen will.
Wer mich etwas kennt, weiß, dass ich für Schreibratgeber nicht viel übrig habe, für die der amerikanischen verdammt bestsellerverdächtigen Art schon gar nicht. Ich habe damit zwei Probleme: Entweder bereiten sie auf, was ein grundlegender Deutschunterricht lange vor dem professionellen Schreiben leisten müsste (meiner hat zum Glück noch mehr geleistet) - oder sie haben mit "meinem" Schreiben schlicht überhaupt nichts zu tun. Natürlich habe ich einige von ihnen gelesen (weil man das angeblich muss, wenn man Schriftsteller sein will) und natürlich habe ich versucht, einiges umzusetzen (weil es doch stimmen muss, wenn so viele KollegInnen jubeln). Ich will nicht leugnen, dass ich gar nichts gelernt habe. Ich weiß z.B. jetzt, was ein Dreiaktschema ist, das ich im Theater erahnt hatte - und dass ich mir all das neumodische Gesabbel über mythische Heldenreisen sparen kann, weil ich dazu im Theologiestudium Spannenderes gelernt habe - nicht zuletzt anhand von historischer Literatur.
Trotzdem waren meine Erkenntnisse anderer Art: Warum generiere ich damit Texte, die nicht die meinen sind, aber vielleicht lesbar, verkäuflich? Warum befreien mich diese Methoden garantiert von jeder Schreiblust? Und warum finde ich in diesen Ratgebern keine Antworten, was bei mir anders läuft und damit angeblich "nicht richtig tickt"? Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass im Schreiben alles, wirklich alles erlaubt ist - nur keine besserwisserischen Oberlehrer.
Jetzt halte ich ein völlig anderes Buch in Händen: "Wie Romane entstehen" von Hanns-Josef Ortheil und Klaus Siblewski. Es ist eines dieser Bücher, die genau zum richtigen Zeitpunkt vor einem liegen. Ich habe mich festgelesen wie im spannendsten Krimi, weil ich ständig "heureka" schreien wollte. Trotz der anfangs gewöhnungsbedürftigen Form einer Vorlesungsreihe fühle ich mich nämlich hochgradig betroffen. Da bin ich gemeint. Und wenn ein anderer das liest, ist dieser andere gemeint. In diesem Buch geht es nicht um "Du sollst" und "man nehme". Scheitern wird, wer hier nach Rezepten sucht, nach Baukästen für den Handwerkerkoffer, nach eindeutigen Antworten. Noch lese ich an Ortheils Passagen, in denen er Beispiele aus dem eigenen Schaffen und aus der Literatur bringt. Und ich stelle mit Verblüffen fest, das all das, was sich in mir gegen Ratgeber sträubt, was ich als scheinbare Schrullen ansehe, wo ich "anders" bin als mein Bäcker oder Präsident, all das genau die Berufsvoraussetzung ist, die ich brauche. Die ich nicht mehr verstecken sollte, nur weil alle anderen alles anders machen.
Ortheil geht der Frage nach, was eigentlich in einem Schriftsteller passiert, lange bevor er auch nur die Idee zum Roman hat. Fast wie ein Ethnologe schaut er nach, ob es eine "Romandisposition" gibt, ob Romanautoren anders wahrnehmen - und wenn ja wie. Es geht nicht darum zu zeigen, wie man einen möglichst marktgängigen oder idealen Roman schreibt, sondern darum zu verstehen, wie jemand mit dieser Anlage des Geschichtenerzählens geschlagen wird und dem "Romanvirus" anheimfällt. Und da liegt der Hauptunterschied zu allen Ratgebern über das Schreiben: Der Literat lässt Chaos und Experimentierfreiheit sehr viel länger und intensiver zu, arbeitet mit lebendigen, sich ständig verändernden Strukturen - und schafft doch daraus eine scheinbar geordnete Welt, einen neuen Kosmos.
Weil der Autor selbst schreibt und die Entstehungsgeschichten von Literatur kennt, kann er vortrefflich vom Eingemachten erzählen. Was habe ich schmunzeln müssen, als ich meine schlimmste Marotte, die verschiedenen "Welthefte", in ähnlicher Form bei ihm wiederfand. Ich habe ein Heft der Kuriosen Begebenheiten, ein Beobachtungsbüchlein und ein Sammelheft für Zitate und Gedanken. Ich lege Hefte für Wildes Denken an und jeder Buchkeimling bekommt eine eigene dicke Kladde, in der ich wild alles sammle, konstruiere, male, schreibe, entwerfe. Ich wusste nicht, dass es Menschen gibt, die das auch tun! Ich glaubte fast, die KollegInnen seien viel ordentlicher und zielgerichteter, mit Software zum Plotten oder Millimeterpapier. Doch bei der reinen Beobachtung und Sammlung bleibt Ortheil nicht stehen.
Er analysiert, was da passiert. Wenn er untersucht, wie aus einem Archiv der Notizen ein Archiv der Erinnerungen wird oder welche Wahrnehmungsweise hinter einer "Welt-Mitschrift" steht, dann versucht er einerseits eine moderne Poetologie des Romans. Andererseits gibt er dem Autor Erkenntniswerkzeuge an die Hand, Ansatzpunkte für Fragen. Ich lerne also nicht, wie man einen Roman schreibt, ich lerne durch dieses Buch, wer ich bin, warum ich so und nicht anders funktioniere - und welche Möglichkeiten mir all diese Eigenheiten bieten. Ich lerne bei seinen Vorlesungen, mich genauer zu beobachten und meinem Text gegenüber völlig neue Fragen zu stellen. Fragen, deren Beantwortung nicht an der Oberfläche liegt, sondern in meinem tiefsten Innern.
So habe ich schon nach den ersten Seiten ein großes persönliches Rätsel gelöst. Ich verzweifle gern, weil mir meine Hauptfiguren seltsam blass und leblos erscheinen und Nebenfiguren viel lebendiger zu geraten scheinen. Bisher versuchte ich, das auf herkömmliche Weise zu regeln, Biografie ausdenken, Dialoge führen etc. Es führte nur zu Scheinleben. Bei meinem letzten Exposé sagte mir auch jemand: Ich dachte, die andere sei die Hauptfigur. Jetzt habe ich das Phänomen verstanden. Ich habe genau die falschen Methoden angewandt. Ich habe zu wenig Chaos, Leben und Freiheit zugelassen. Ich habe mir nicht erlaubt, was Ortheil den "offenen Text" nennt. Jetzt weiß ich, Figuren dürfen durchaus andere verdrängen - und tun das häufiger, als ich es mir vorstellen kann. Ich weiß jetzt, warum mir jemand näher steht, dem ich aus angeblich dramaturgischer Vernunft nur eine Nebenrolle zugestehen will...
Wie gesagt, nur 76 Seiten von 283 habe ich bisher gelesen (zu Siblewski kann ich noch nichts sagen) - aber die mit Gewinn. Und diesen Gewinn hat man eher, wenn man aktiv reflektierend liest und keine fertigen Antworten erwartet. "Wie Romane entstehen" scheint mir ein Buch zur Förderung der Selbsterkenntnis zu sein, ein manchmal fast ethnologischer bis philosophischer Einblick ins Schriftstellerdenken. Ideale Lektüre für AutorInnen von Romanen, aber sicher auch interessant für LaiInnen, die einmal wissen wollen, warum unsereins so komisch tickt oder wie diese Wunderwelten auf Papier eigentlich zustande kommen.
Wer mich etwas kennt, weiß, dass ich für Schreibratgeber nicht viel übrig habe, für die der amerikanischen verdammt bestsellerverdächtigen Art schon gar nicht. Ich habe damit zwei Probleme: Entweder bereiten sie auf, was ein grundlegender Deutschunterricht lange vor dem professionellen Schreiben leisten müsste (meiner hat zum Glück noch mehr geleistet) - oder sie haben mit "meinem" Schreiben schlicht überhaupt nichts zu tun. Natürlich habe ich einige von ihnen gelesen (weil man das angeblich muss, wenn man Schriftsteller sein will) und natürlich habe ich versucht, einiges umzusetzen (weil es doch stimmen muss, wenn so viele KollegInnen jubeln). Ich will nicht leugnen, dass ich gar nichts gelernt habe. Ich weiß z.B. jetzt, was ein Dreiaktschema ist, das ich im Theater erahnt hatte - und dass ich mir all das neumodische Gesabbel über mythische Heldenreisen sparen kann, weil ich dazu im Theologiestudium Spannenderes gelernt habe - nicht zuletzt anhand von historischer Literatur.
Trotzdem waren meine Erkenntnisse anderer Art: Warum generiere ich damit Texte, die nicht die meinen sind, aber vielleicht lesbar, verkäuflich? Warum befreien mich diese Methoden garantiert von jeder Schreiblust? Und warum finde ich in diesen Ratgebern keine Antworten, was bei mir anders läuft und damit angeblich "nicht richtig tickt"? Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass im Schreiben alles, wirklich alles erlaubt ist - nur keine besserwisserischen Oberlehrer.
Jetzt halte ich ein völlig anderes Buch in Händen: "Wie Romane entstehen" von Hanns-Josef Ortheil und Klaus Siblewski. Es ist eines dieser Bücher, die genau zum richtigen Zeitpunkt vor einem liegen. Ich habe mich festgelesen wie im spannendsten Krimi, weil ich ständig "heureka" schreien wollte. Trotz der anfangs gewöhnungsbedürftigen Form einer Vorlesungsreihe fühle ich mich nämlich hochgradig betroffen. Da bin ich gemeint. Und wenn ein anderer das liest, ist dieser andere gemeint. In diesem Buch geht es nicht um "Du sollst" und "man nehme". Scheitern wird, wer hier nach Rezepten sucht, nach Baukästen für den Handwerkerkoffer, nach eindeutigen Antworten. Noch lese ich an Ortheils Passagen, in denen er Beispiele aus dem eigenen Schaffen und aus der Literatur bringt. Und ich stelle mit Verblüffen fest, das all das, was sich in mir gegen Ratgeber sträubt, was ich als scheinbare Schrullen ansehe, wo ich "anders" bin als mein Bäcker oder Präsident, all das genau die Berufsvoraussetzung ist, die ich brauche. Die ich nicht mehr verstecken sollte, nur weil alle anderen alles anders machen.
Ortheil geht der Frage nach, was eigentlich in einem Schriftsteller passiert, lange bevor er auch nur die Idee zum Roman hat. Fast wie ein Ethnologe schaut er nach, ob es eine "Romandisposition" gibt, ob Romanautoren anders wahrnehmen - und wenn ja wie. Es geht nicht darum zu zeigen, wie man einen möglichst marktgängigen oder idealen Roman schreibt, sondern darum zu verstehen, wie jemand mit dieser Anlage des Geschichtenerzählens geschlagen wird und dem "Romanvirus" anheimfällt. Und da liegt der Hauptunterschied zu allen Ratgebern über das Schreiben: Der Literat lässt Chaos und Experimentierfreiheit sehr viel länger und intensiver zu, arbeitet mit lebendigen, sich ständig verändernden Strukturen - und schafft doch daraus eine scheinbar geordnete Welt, einen neuen Kosmos.
Weil der Autor selbst schreibt und die Entstehungsgeschichten von Literatur kennt, kann er vortrefflich vom Eingemachten erzählen. Was habe ich schmunzeln müssen, als ich meine schlimmste Marotte, die verschiedenen "Welthefte", in ähnlicher Form bei ihm wiederfand. Ich habe ein Heft der Kuriosen Begebenheiten, ein Beobachtungsbüchlein und ein Sammelheft für Zitate und Gedanken. Ich lege Hefte für Wildes Denken an und jeder Buchkeimling bekommt eine eigene dicke Kladde, in der ich wild alles sammle, konstruiere, male, schreibe, entwerfe. Ich wusste nicht, dass es Menschen gibt, die das auch tun! Ich glaubte fast, die KollegInnen seien viel ordentlicher und zielgerichteter, mit Software zum Plotten oder Millimeterpapier. Doch bei der reinen Beobachtung und Sammlung bleibt Ortheil nicht stehen.
Er analysiert, was da passiert. Wenn er untersucht, wie aus einem Archiv der Notizen ein Archiv der Erinnerungen wird oder welche Wahrnehmungsweise hinter einer "Welt-Mitschrift" steht, dann versucht er einerseits eine moderne Poetologie des Romans. Andererseits gibt er dem Autor Erkenntniswerkzeuge an die Hand, Ansatzpunkte für Fragen. Ich lerne also nicht, wie man einen Roman schreibt, ich lerne durch dieses Buch, wer ich bin, warum ich so und nicht anders funktioniere - und welche Möglichkeiten mir all diese Eigenheiten bieten. Ich lerne bei seinen Vorlesungen, mich genauer zu beobachten und meinem Text gegenüber völlig neue Fragen zu stellen. Fragen, deren Beantwortung nicht an der Oberfläche liegt, sondern in meinem tiefsten Innern.
So habe ich schon nach den ersten Seiten ein großes persönliches Rätsel gelöst. Ich verzweifle gern, weil mir meine Hauptfiguren seltsam blass und leblos erscheinen und Nebenfiguren viel lebendiger zu geraten scheinen. Bisher versuchte ich, das auf herkömmliche Weise zu regeln, Biografie ausdenken, Dialoge führen etc. Es führte nur zu Scheinleben. Bei meinem letzten Exposé sagte mir auch jemand: Ich dachte, die andere sei die Hauptfigur. Jetzt habe ich das Phänomen verstanden. Ich habe genau die falschen Methoden angewandt. Ich habe zu wenig Chaos, Leben und Freiheit zugelassen. Ich habe mir nicht erlaubt, was Ortheil den "offenen Text" nennt. Jetzt weiß ich, Figuren dürfen durchaus andere verdrängen - und tun das häufiger, als ich es mir vorstellen kann. Ich weiß jetzt, warum mir jemand näher steht, dem ich aus angeblich dramaturgischer Vernunft nur eine Nebenrolle zugestehen will...
Wie gesagt, nur 76 Seiten von 283 habe ich bisher gelesen (zu Siblewski kann ich noch nichts sagen) - aber die mit Gewinn. Und diesen Gewinn hat man eher, wenn man aktiv reflektierend liest und keine fertigen Antworten erwartet. "Wie Romane entstehen" scheint mir ein Buch zur Förderung der Selbsterkenntnis zu sein, ein manchmal fast ethnologischer bis philosophischer Einblick ins Schriftstellerdenken. Ideale Lektüre für AutorInnen von Romanen, aber sicher auch interessant für LaiInnen, die einmal wissen wollen, warum unsereins so komisch tickt oder wie diese Wunderwelten auf Papier eigentlich zustande kommen.
- Hanns-Josef Ortheil, Klaus Siblewski: Wie Romane entstehen, Sammlung Luchterhand
- Rezension in "Glanz und Elend"
- Leseprobe (pdf)
- Gespräch Ortheil / Sibleswski im litradio
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