Marathon

Weil ich im Sportunterricht immer eine Niete war, habe ich habe leider nie gelernt, was ein Marathonläufer psychisch und körperlich unternimmt, um kurz vor dem Ziel durchzuhalten, wenn die Lungen stechen und das Hirn in Großbuchstaben "AUFGEBEN!" brüllt. Ich weiß nur, dass ich mich mit meiner Übersetzung jetzt genau in diesem Zustand befinde.

Dazu gehören natürlich allerhand saftige Flüche in mindestens drei Sprachen (und wenn ich polnisch fluche, bin ich wirklich sehr übel drauf) und eine ganz besondere Sehnsucht, dieses Brikett von Buch mit seinen rund 550 Seiten (französisches Paperback-Format) vom höchsten Hochhaus der Welt zu werfen, natürlich nicht, ohne es vorher angezündet zu haben. Der Autor tut besser daran, derzeit in Paris zu bleiben und mir nicht womöglich über den Weg zu laufen, denn in der Schlussphase einer Übersetzung habe ich höchst unfeine Gedanken, die Krimiautoren wohl besser abreagieren können als ich.

Kurzum: Es bleiben noch 70 Seiten, in Worten SIEBZIG. Am 31.7. wollte ich fertig sein.
Aber immerhin, kürzlich waren es noch mehr als hundert und das kleine Päckchen Seiten fühlt sich zwischen den Fingern doch ganz anders an als das gesamte Brikett, mit dem man wahrscheinlich jemanden erschlagen könnte. Etwa den Autor. Oder noch besser sich selbst. Weil ich aber auch dazu zu blöde bin, mache ich mit pfeifenden Lungen und platzendem Hirn einfach weiter, denn auf die paar grauen Zellen, die am Wegesrand verrecken, kommt es nun auch nicht mehr an. Gelobt sei mein Autor, weil er mir pro Seite Geld einbringt. Neuerdings berechne ich abends mein Tagesgehalt, meine Geschwindigkeit und was ich schon alles hinter mich gebracht habe.

Es folgt eines der brutalsten Wochenenden, die man sich vorstellen kann - mit Blogpause (wie schlecht muss es mir gehen, wenn ich hier schweige!). Ich spiele den taffen Gladiator, der sich selbst vorwärts peitscht und mit gefrässigen Löwen droht, sollte er es nicht ins Ziel schaffen. Dabei hat der Gladiator bereits Hühneraugen, Frostbeulen und Bizepsverzerrungen von seiner Arbeit - kurzum, er ist nicht mehr der frischeste, dieser Typ. Wahrscheinlich sind die 70 Seiten am Wochenende nicht zu knacken, nein unmöglich - auch wenn ich ein paar beim Abendessen nebenher nachher noch vorbereiten will. Auf der anderen Seite lohnt es sich, zwei Tage lang nur noch Gemüse zu sein, wenn der Klops damit endlich weg wäre.

Endlich weg, das bedeutet, dass die Tretmühle von vorn beginnt. Denn dann sind 545 Seiten plus 20% radikal und aufmerksam zu überarbeiten, damit das Rohgestammel zu lesbarem, elegantem Deutsch wird. Aber das ist die Kür - das fühlt sich an wie Eisessen am Strand.

Ich weiß nicht, was Marathonläufer in meinem Zustand machen, um durchzuhalten. Ich halte es eben einfach wie der Esel, der kaum noch laufen mag und bockt: Ich halte mir eine Möhre vor die Nase. Zwei Tage Übersetzen auch beim Essen, Übersetzen rund um die Uhr. Und dann lasse ich andere rennen. Lasse mich an einem Plätzchen rundum verwöhnen, wo Turgenjews Roman "Rauch" spielt und wo Dostojewskij sich weit dreckiger gefühlt hat als ich jetzt. Ich werde diesen Autor überleben. Dieses wunderbare, ungeheuer spannende Buch (das ist es nämlich in der Tat) wird Anfang 2011 in einem feinen Verlag erscheinen. Das darf ich kleines Eselchen einfach nicht verbocken!

6 Kommentare:

  1. Gut gebrüllt, Petra!:-)
    Dann lass es dir man gutgehen, wenn der Marathon erstmal vorbei ist ...

    Herzlichst
    Christa

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  2. Der Kampf ist zäh.
    Zwischenstand bei Hirnschluss: 591 Seiten deutscher Text von 485 Seiten Original übersetzt. Noch zu übersetzen: Sieben Kapitel auf 50 Seiten.
    Dank an alle, die mich so sanft aus dem Hintergrund anfeuern, Dank vor allem dem Kollegen, der mich quasi in letzter Minute mit einem Original von Hemingway versorgt hat.
    Feierabend.

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  3. Beim Marathon stellen sie doch zum Anfeuern Trommler auf....sollen wir?

    BONG..BONG..BONG..BONG..

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  4. Frauke Ehlers8/8/10 15:57

    Also Marathon Erfahrung habe ich keine, nicht mal nen Halbmarathon, lächerliche paar 10km Läufe, ABERr dennoch, die Gruppe, die am Strassenrand steht, trägt tatsächlich mit. Also, GO FOR IT!

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  5. Toll, bei solchem Publikum am Straßenrand, das weckt tatsächlich, danke! (Man fühlt sich nicht so allein am Schreibtisch).
    Bei zunehmender Belastung des Sprachareals im Hirn versagt natürlich das Mathematikareal, gestern waren es noch 60 Seiten.

    Jetzt sind 492 Seiten in 601 Seiten übertragen, also bleiben noch 53.

    Nun erst mal ein starker, heißer, süßer Tee nebst eiweißreichem Imbiss, dann geht's weiter. Irgendwann muss dieser Brocken doch zu knacken sein!

    Und auch wenn man das beim Marathon wohl nicht macht, gibt's morgen einen absolut arbeitsfreien Tag, weil meine Freundin meint, ich würde jetzt am Telefon nicht mehr nur Europlais reden, sondern in Zungen. Ist auch nicht ganz so gesund, wenn man seinen eigenen Namen im Pass nachschlagen muss... ;-)

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  6. Bong....Bong...Bong....Bonnnng....!

    ;-)

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