Reptilientrance in Wissembourg
Ich behandle und empfinde Sprache sehr stark wie Musik und komponiere meine Texte. Trotzdem bin ich unendlich auf Komponisten neidisch. Was sie schaffen, ist international verständlich, braucht keine umständlichen Übersetzungen. Dafür brauchen sie eine Art "Vorleser", nämlich die Musiker, welche die kleinen Notenköpfe vom Papier ins Ohr bringen. Aber auch da könnte man als Autor schier neidisch werden: Können wir je so eine Ekstase in unseren Lesern erschaffen, wie man sie manchem Musiker ansieht? Aber wenn man sich dann so eine Partitur anschaut, scheinen Aufwand, Talent und Können doch in ähnlich komplizierter Weise ineinandergreifen zu müssen.
Wissenschaftler wollen ja immer alles genau wissen - und so haben sie sich nun auch an die Wirkung von Musik gemacht: "Woher kommt der Gäsenhaut-Effekt" lautet ein interessanter Artikel in der ZEIT. Da weiß man zwar inzwischen jede Menge über den hausgemachten Dopaminrausch und die Kommunikation mit dem Reptilien-Ich aus grauer Vorzeit, aber zum Glück bleibt uns noch ein Geheimnis im Gefühlsleben. Was allerdings passiert, wenn Musik mit Erwartungen spielt, Empathie zeigt oder zumindest vortäuscht und obendrein "suspense" verwendet - das könnte auch für die schreibenden Zünfte aufschlussreich sein.
Zum Glück war ich gestern kein Versuchskaninchen für Musikforscher. Viel zu spät aus dem deutschen Ausland zurückgekehrt, gehetzt und genervt, testete ich die Straßenlage meines Autos in den Haarnadelkurven durch den Vogesenwald aus. Normalerweise bin ich kein solcher Schweinefahrer, schon gar nicht in dieser emotionalen Verfassung - aber was will man machen, wenn in Wissembourg das Konzert ohne einen anzufangen droht? Aber ich habe es geschafft! Internationales Musikfestival in Wissembourg, direkt an der Grenze zwischen Elsass und Pfalz, in einem lauschigen, geschichtsträchtigen Städtchen mit Fachwerkhäusern und mittelalterlichen Gassen (Foto), nicht in der großen Klosterstiftskirche, die alle für die Kirche halten, sondern in St. Jean, die unweit daneben in einem kleinen Sträßchen versteckt ist.
Was kann das schon Großes sein, murmeln die Hochnäsigen aus den berühmten Zentren der Kultur; wer will sowas hören, brummelt die Landbevölkerung. Aber diejenigen, die den Geheimtipp kennen, kamen gestern angereist aus Stuttgart und Mannheim, Baden-Baden, Strasbourg und dem Haut-Rhin, ja sogar Regensburg und Belgien. Einheimische von beiden Seiten der Grenze nicht mitgezählt. Das Publikum ist international, die Musiker sind es noch mehr - und vor allem treten hier Künstler auf, die man sonst nur in eben jenen Zentren der Kultur vermutet. In Wissembourg ist man ihnen näher, die wunderschöne alte Kirche aus rosa Vogesensandstein mit ihrem samtenen Theatervorhang schafft nicht nur eine fast familiäre Atmosphäre, sondern hat auch eine außergewöhnlich gute Akustik (außer auf den hintersten Plätzen). Hier erlebt man das, was in großen Häusern verloren geht: Man hört das Atmen jedes einzelnen Musikers, sieht jede Veränderung in der Mimik, jedes gerissene Haar am Bogen. So überträgt sich der Zauber, dem die Musikforscher vergeblich nachspüren, direkt.
Genossen habe ich gestern das Atrium Streichquartett und Peter Laul am Klavier, mit Musik von Haydn, Schostakowitsch und Weinberg. Denn wenn ich schon nicht in nächster Zeit nach Sankt Petersburg komme, warte ich einfach, dass Petersburg zu mir ins Elsass kommt...
Gestern hatte ich noch wunderbare Sätze über dieses Konzert in mir, heute klingen sie mir zu schnulzig und schmalzig. Denn da ist genau das passiert, was die Musikforscher so kirre macht, dieser Effekt, wenn sich die Gefühle aus der Musik und die Regungen der Musiker auf die Zuhörer übertragen. Wenn man beginnt, mit den Musikern zu atmen oder vor Spannung den Atem anhält, wenn die Gänsehaut kommt, das eigenartige Schweben, vom synästhesistischen Empfinden ganz zu schweigen. Weinberg hat Tonfolgen komponiert, die gleichzeitig blau und gelb sind, nicht gemischt, nicht übereinander, sondern gleichzeitig.
Ob es die Umschaltung aufs Reptilienhirn war? Oder das Glas Crémant, das man in der Pause vor der Kirche trinken konnte? Vielleicht auch der synästhetische Farb- und Formenrausch? Jedenfalls habe ich bei Schostakowitsch völlig vergessen, wo ich war, wo dieser Raum stand. Ich hätte nachher aus dieser Kirche treten können und wäre nicht überrascht gewesen, wenn ich die Oberfläche des Mondes vorgefunden hätte oder einen lilfarbenen Birkenwald. Stattdessen standen da Häuser, die mir seltsam vertraut erschienen, wie aus einem Ort, den ich für einen Roman hätte erfinden können oder den ich vielleicht schon einmal geträumt hatte. Es war wie manchmal, wenn man morgens an einem fremden Ort aufwacht: Man muss sich erst einmal in Zeit und Raum sortieren.
Natürlich setzt man sich in solch einem Zustand musikalischer Entrückung nicht sofort ans Steuer und nimmt dann auch die Haarnadelkurven etwas besinnlicher. Zum Glück ist mir niemand gefolgt. Irgendwann stand nämlich eine wahrscheinlich dämlich grinsende Frau am Hang und musste einfach gebannt in den Himmel starren. Schwarzgraue Wolken drifteten von der Bergseite aufs sonnenbeschienene Wissembourg in der Ebene zu. Über dem lilaschwarzen Schwarzwald flammte der Himmel rotviolett wie Feuer, die Bergkette hatte eine weitere, zartblaue aus dunklen Wolken aufgestülpt - und mittendrin stand ein leuchtender Finger. Das senkrechte Endstück eines doppelten, ansonsten unsichtbaren Regenbogens, erst in allen Farben changierend, dann in immer schöneren Feuertönen glühend. Und irgendwann verschwamm alles miteinander in einem seltsamen Kirschrot.
Mir ist an diesem Abend wieder einmal aufgegangen, wie sehr man diese unerforschten Momente nicht nur in der Musik braucht - sie sind mir zumindest eine Art Heizmaterial für die eigenen Schöpfungen. Die Ideen kommen dann in Form von Bildern und schemenhaften Formen und es gibt nichts Unverzeihlicheres und Schrecklicheres, als wenn man dann nichts zum Schreiben dabei hat. Natürlich gehören bei mir zur Grundausstattung eines Autos ein Notizheft und ein Stift. Aufschlussreich auch, woran man dann arbeitet - denn man stellt keine Zensorenfragen mehr, ist ganz bei sich.
Eien Wiederholung ähnlicher Naturschauspiele kann ich natürlich nicht versprechen, aber eine Wiederholung musikalischer Genüsse ist gewiss - noch läuft das Internationale Musikfestival in Wissembourg täglich! Mir kann man dort noch an drei Abenden über den Weg laufen und Karten (inklusive Abos) sind bei rechtzeitigem Erscheinen meist auch noch spontan an der Abendkasse erhältlich. Es gab aber schon öfter völlig ausverkaufte Konzerte!
Warum vor allem die Konzerte am Wochenende so früh anfangen, habe ich jetzt auch gelernt: So bleibt genug Zeit, anschließend die kulinarischen feinen Eckchen und guten Weine der Gegend zu erkunden, ob auf französischer Seite in Wissembourg oder im direkt daran angrenzenden pfälzischen Schweigen-Rechtenbach am Deutschen Weintor. Ein Kuriosum jedenfalls gibt es hier inzwischen passkontrollfrei: So manche Traube vom Pfälzer Wein wächst auf französischem Boden und so manche Traube für Elsässer Wein auf deutschem. Auch da kann man also Zeit und Raum öfter mal verwechseln.
Wissenschaftler wollen ja immer alles genau wissen - und so haben sie sich nun auch an die Wirkung von Musik gemacht: "Woher kommt der Gäsenhaut-Effekt" lautet ein interessanter Artikel in der ZEIT. Da weiß man zwar inzwischen jede Menge über den hausgemachten Dopaminrausch und die Kommunikation mit dem Reptilien-Ich aus grauer Vorzeit, aber zum Glück bleibt uns noch ein Geheimnis im Gefühlsleben. Was allerdings passiert, wenn Musik mit Erwartungen spielt, Empathie zeigt oder zumindest vortäuscht und obendrein "suspense" verwendet - das könnte auch für die schreibenden Zünfte aufschlussreich sein.
Zum Glück war ich gestern kein Versuchskaninchen für Musikforscher. Viel zu spät aus dem deutschen Ausland zurückgekehrt, gehetzt und genervt, testete ich die Straßenlage meines Autos in den Haarnadelkurven durch den Vogesenwald aus. Normalerweise bin ich kein solcher Schweinefahrer, schon gar nicht in dieser emotionalen Verfassung - aber was will man machen, wenn in Wissembourg das Konzert ohne einen anzufangen droht? Aber ich habe es geschafft! Internationales Musikfestival in Wissembourg, direkt an der Grenze zwischen Elsass und Pfalz, in einem lauschigen, geschichtsträchtigen Städtchen mit Fachwerkhäusern und mittelalterlichen Gassen (Foto), nicht in der großen Klosterstiftskirche, die alle für die Kirche halten, sondern in St. Jean, die unweit daneben in einem kleinen Sträßchen versteckt ist.
Was kann das schon Großes sein, murmeln die Hochnäsigen aus den berühmten Zentren der Kultur; wer will sowas hören, brummelt die Landbevölkerung. Aber diejenigen, die den Geheimtipp kennen, kamen gestern angereist aus Stuttgart und Mannheim, Baden-Baden, Strasbourg und dem Haut-Rhin, ja sogar Regensburg und Belgien. Einheimische von beiden Seiten der Grenze nicht mitgezählt. Das Publikum ist international, die Musiker sind es noch mehr - und vor allem treten hier Künstler auf, die man sonst nur in eben jenen Zentren der Kultur vermutet. In Wissembourg ist man ihnen näher, die wunderschöne alte Kirche aus rosa Vogesensandstein mit ihrem samtenen Theatervorhang schafft nicht nur eine fast familiäre Atmosphäre, sondern hat auch eine außergewöhnlich gute Akustik (außer auf den hintersten Plätzen). Hier erlebt man das, was in großen Häusern verloren geht: Man hört das Atmen jedes einzelnen Musikers, sieht jede Veränderung in der Mimik, jedes gerissene Haar am Bogen. So überträgt sich der Zauber, dem die Musikforscher vergeblich nachspüren, direkt.
Genossen habe ich gestern das Atrium Streichquartett und Peter Laul am Klavier, mit Musik von Haydn, Schostakowitsch und Weinberg. Denn wenn ich schon nicht in nächster Zeit nach Sankt Petersburg komme, warte ich einfach, dass Petersburg zu mir ins Elsass kommt...
Gestern hatte ich noch wunderbare Sätze über dieses Konzert in mir, heute klingen sie mir zu schnulzig und schmalzig. Denn da ist genau das passiert, was die Musikforscher so kirre macht, dieser Effekt, wenn sich die Gefühle aus der Musik und die Regungen der Musiker auf die Zuhörer übertragen. Wenn man beginnt, mit den Musikern zu atmen oder vor Spannung den Atem anhält, wenn die Gänsehaut kommt, das eigenartige Schweben, vom synästhesistischen Empfinden ganz zu schweigen. Weinberg hat Tonfolgen komponiert, die gleichzeitig blau und gelb sind, nicht gemischt, nicht übereinander, sondern gleichzeitig.
Ob es die Umschaltung aufs Reptilienhirn war? Oder das Glas Crémant, das man in der Pause vor der Kirche trinken konnte? Vielleicht auch der synästhetische Farb- und Formenrausch? Jedenfalls habe ich bei Schostakowitsch völlig vergessen, wo ich war, wo dieser Raum stand. Ich hätte nachher aus dieser Kirche treten können und wäre nicht überrascht gewesen, wenn ich die Oberfläche des Mondes vorgefunden hätte oder einen lilfarbenen Birkenwald. Stattdessen standen da Häuser, die mir seltsam vertraut erschienen, wie aus einem Ort, den ich für einen Roman hätte erfinden können oder den ich vielleicht schon einmal geträumt hatte. Es war wie manchmal, wenn man morgens an einem fremden Ort aufwacht: Man muss sich erst einmal in Zeit und Raum sortieren.
Natürlich setzt man sich in solch einem Zustand musikalischer Entrückung nicht sofort ans Steuer und nimmt dann auch die Haarnadelkurven etwas besinnlicher. Zum Glück ist mir niemand gefolgt. Irgendwann stand nämlich eine wahrscheinlich dämlich grinsende Frau am Hang und musste einfach gebannt in den Himmel starren. Schwarzgraue Wolken drifteten von der Bergseite aufs sonnenbeschienene Wissembourg in der Ebene zu. Über dem lilaschwarzen Schwarzwald flammte der Himmel rotviolett wie Feuer, die Bergkette hatte eine weitere, zartblaue aus dunklen Wolken aufgestülpt - und mittendrin stand ein leuchtender Finger. Das senkrechte Endstück eines doppelten, ansonsten unsichtbaren Regenbogens, erst in allen Farben changierend, dann in immer schöneren Feuertönen glühend. Und irgendwann verschwamm alles miteinander in einem seltsamen Kirschrot.
Mir ist an diesem Abend wieder einmal aufgegangen, wie sehr man diese unerforschten Momente nicht nur in der Musik braucht - sie sind mir zumindest eine Art Heizmaterial für die eigenen Schöpfungen. Die Ideen kommen dann in Form von Bildern und schemenhaften Formen und es gibt nichts Unverzeihlicheres und Schrecklicheres, als wenn man dann nichts zum Schreiben dabei hat. Natürlich gehören bei mir zur Grundausstattung eines Autos ein Notizheft und ein Stift. Aufschlussreich auch, woran man dann arbeitet - denn man stellt keine Zensorenfragen mehr, ist ganz bei sich.
Eien Wiederholung ähnlicher Naturschauspiele kann ich natürlich nicht versprechen, aber eine Wiederholung musikalischer Genüsse ist gewiss - noch läuft das Internationale Musikfestival in Wissembourg täglich! Mir kann man dort noch an drei Abenden über den Weg laufen und Karten (inklusive Abos) sind bei rechtzeitigem Erscheinen meist auch noch spontan an der Abendkasse erhältlich. Es gab aber schon öfter völlig ausverkaufte Konzerte!
Warum vor allem die Konzerte am Wochenende so früh anfangen, habe ich jetzt auch gelernt: So bleibt genug Zeit, anschließend die kulinarischen feinen Eckchen und guten Weine der Gegend zu erkunden, ob auf französischer Seite in Wissembourg oder im direkt daran angrenzenden pfälzischen Schweigen-Rechtenbach am Deutschen Weintor. Ein Kuriosum jedenfalls gibt es hier inzwischen passkontrollfrei: So manche Traube vom Pfälzer Wein wächst auf französischem Boden und so manche Traube für Elsässer Wein auf deutschem. Auch da kann man also Zeit und Raum öfter mal verwechseln.
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