Im Skaphander

Eigentlich war ich nach einem Übersetzungsmarathon hundemüde und wollte nur noch ins Bett. Aber dann blieb ich gestern zu später Stunde an einem poetischen Filmtitel und am Fernseher kleben: "Schmetterling und Taucherglocke (Le scaphandre et le papillon)" lief da in der ARD. Der Film von Julian Schnabel basiert auf einer in Frankreich sehr bekannten wahren Geschichte: Jean Dominique Bauby, Chefredakteur der Zeitschrift Elle, erlitt plötzlich in den besten Jahren einen Schlaganfall, der seinen Hirnstamm schädigte und ein sogenanntes Locked-In-Syndrom mit sich brachte. Der Mann war also vollständig gelähmt und konnte nur noch ein Augenlid bewegen, er konnte aber hören und in einem extrem eingeschränkten Gesichtsfeld sehen. Das Einzige, was noch wirklich funktionierte, waren seine Fantasie und sein Erinnerungsvermögen.

Bauby machte in den Neunzigern deshalb Schlagzeilen, weil er in diesem Zustand ein Ding der Unmöglichkeit vollbrachte: Er schrieb ein Buch. Eine Therapeutin, die sein flatterndes Augenlid bemerkte, machte sich in aufopferungsvoller Kleinarbeit daran, ihm einen Zeichencode für Ja und Nein damit beizubringen, und ihm mit einem speziell entwickelten, immer wieder vorgelesenen Alphabet die Möglichkeit einer extrem langwierigen Kommunikation zu bieten. Auf diese Weise "diktierte" Bauby seinen Therapeutinnen mit eben jenem Augenlid Buchstabe für Buchstabe ein ergreifendes, poetisches Buch über sein Leben, über das Sterben und das Gefangensein in der Taucherglocke, die Isolation und das Leben ohne Kommunikation. Er starb ein paar Wochen nach der Veröffentlichung.

Der New Yorker Maler und Regisseur Julian Schnabel hat einen Film gedreht, der von der ersten Minute an unter die Haut geht, denn wir erleben zunächst allein aus dem Körper Baubys heraus, mit seinen Gesichtsfeldbeschränkungen, den Hörproblemen, seinen Träumen und Leiden. Diesen Film vergisst man nicht, weil er so viele Fragen aufwirft. Wie ist das, wenn man plötzlich in seinem Körper wie lebendig begraben eingesperrt ist und sich nicht mehr mitteilen kann? Wie geht ein Mensch, der einmal extrem kommunikativ und kreativ war, damit um, dass nur noch das "Kopfkino" funktioniert? Ein ähnliches Thema wie in Schnabels Schriftstellerporrtrait "Before Night Falls" - eine Hommage an die Überlebenskräfte der Fantasie, die anscheinend den Menschen mehr als alles andere zum Menschen macht. Daher auch das Bild des Schmetterlings, der sich aus der Taucherglocke wie aus einem Kokon befreien kann - es war Baubys eigenes Bild.

In diesem Film kommt eine Szene vor, in der Bauby erstmals im Spezialrollstuhl in seiner Klinik auf den Flur gerollt wird und der Pfleger weg muss. Bauby sitzt allein und völlig hilflos da, kann die Dinge nur in einem winzigen Kreisausschnitt sehen, aber er sieht Napoleons Frau, die die Klinik zur Gründungszeit oft besucht hatte. Er stellt sie sich vor.
Und dann erzählt der in sich eingeschlossene Mann, dass auch Sergej Diaghilew dem Krankenhaus einmal einen Besuch abgestattet habe. In dem Moment taucht im Flur Nijinsky im Kostüm des Fauns auf, tanzt vor dem Mann im Rollstuhl und springt in die Weite davon. Bauby erzählt dazu, Nijinsky habe (das ist eine Legende) in diesem Flur zum ersten Mal seinen weltberühmten Sprung ausgeführt.

In diesem Moment wird dem Gelähmten klar, dass auch er noch springen kann, dass er sich in diesem Flur bewegen kann, obwohl er ihn nicht einmal ganz sieht.
Er kann es, weil er Fantasie hat und weil er Geschichten erfinden kann. In gewisser Weise ist es der Anfang seines Schreibens.

Ich muss wahrscheinlich nicht sagen, wie erschütternd diese Szene für mich war. Ich kann gar nicht beschreiben, was mit Nijinskys legendärem, auch zu Lebzeiten schon metaphernhaftem Sprung in dieser Geschichte in mir ablief. Es war dieses Gefühl, plötzlich etwas begriffen zu haben. Auf eine zerknitterte Serviette notierte ich wie in Trance das Wort "Berührmacht". Ich musste mir nach dem Film erst noch einmal klar machen, dass ich keine fiktive Geschichte gesehen hatte. Bauby hat es wirklich gegeben und er hat mit Nijinsky einen Sprung gewagt, mit ihm den Raum zurück erobert. Mehr als vierzig Jahre nach Nijinskys Tod.

Ich begriff auf einmal etwas von dieser mächtigen Kraft des Tänzers, Menschen nicht nur zu berühren, sondern auch zu verwandeln - über den Tod hinaus, über Zeit und Raum hinaus. Nicht umsonst nannte Henry Miller (in New Directions, 1952) Nijinskys Tagebuchsammlung als eines der Bücher, die er auf eine einsame Insel mitnehmen würde. Und er berührt immer noch - mit einem unwahrscheinlichen Charisma, das auch etwas mit seinem Leiden zu tun hat, das ein "Nur-Star" nie entwickeln kann. Nijinsky hat die Abgründe des Menschseins ebenfalls gelebt, ist in Bereiche vorgestoßen, die wir uns kaum vorstellen mögen und die uns trotzdem vielleicht gerade deshalb so faszinieren. Auch er hat irgendwann nicht mehr kommunizieren können, aber er hatte uns etwas zu sagen, viel zu sagen...

In dem Moment, in dem ich die Szene sah, habe ich zum Taschentuch gegriffen.
In dem Moment, in dem mir klar wurde, was ich verstanden hatte, musste ich lachen.

Nein, das ist keine Geschichte nur für ein Jubiläumsjahr, die ein Jahr später out ist, weil das Feuilleton so kurzsichtig funktioniert. Das ist auch keine Geschichte, die man künstlich "aufblasen" muss, weil sie womöglich für den Markt zu klein wäre. Es ist keine Geschichte, die man beiseite legt, weil sich ein paar Sachbücher an die Fakten heranmachen. Diese Geschichte in einer Taucherglocke zu begraben, wäre fast so etwas wie Verrat an dem, der sie gelebt hat und dessen größter Wunsch war, mit seiner Kunst die Menschen "tiefinnerlich zu berühren".

Es gibt einen Kollegen, der mein Manuskript kennt und jetzt wahrscheinlich breit schmunzeln wird. Was er mir schon vor vielen Monaten riet, spricht gegen alle Vernunft, in diesem Stadium sowieso. Es spricht außerdem dagegen, dass ich nicht gut genug bin, dass es absolut verrückt ist, dass ich es nie vorhatte und überhaupt und sowieso. Aber ich habe heute Nacht von Nijinsky geträumt und dann gegen vier Uhr fieberhaft nach Papier gesucht, angefangen zu notieren...
Ich weiß nicht, was das werden soll, was da geschieht. Ich habe nur das Gefühl, dass diese Geschichte noch lange nicht zu Ende ist...

Lesetipp:
Jean-Dominique Bauby: Le scaphandre et le papillon, Editions Robert Laffont
Jean-Dominique Bauby: Schmetterling und Taucherglocke, dtv
Gucktipp:
Schmetterling und Taucherglocke, Film von Julian Schnabel

3 Kommentare:

  1. vielen dank für diesen berührenden text.
    ich habe die vorschau für den film damals mehrfach im kino gesehen und nicht gedacht, dass er mich interessieren würde. ihre beschreibung hat mir lust gemacht. danke!

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  2. Was Du schreibst, Petra, das gibt ja immer interessante Aspekte für das Werkstattbuch.... Da lässt sich ja glatt ein autobiografisch angehauchter Romanteil mit dazubasteln...(Sorry für den despektierlichen Begriff!)....so mit Begegnungen über die Zeiten hinweg!

    Mach et! Dat Dingens wird spannend!!

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  3. @freut mich, blaugraufrau! Ich fand den Film so gut, dass ich ihn mir auch nach dem Anschauen kaufen würde.

    @sabine
    Ma chère, wenn ich schreibe, ich wäre Nijinsky begegnet, komm ich genau da hin, wo Nijinsky hingekommen ist... ;-)

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