Lena Gorelik: Verliebt in Sankt Petersburg

Das kleine Bändchen mit dem Untertitel "Meine russische Reise" ist wie ein entspannender Gutenachtfilm: Als Bettlektüre hatte ich es in einer Nacht gelesen, mich gut unterhalten und fein amüsiert.
Die in Sankt Petersburg geborene, in Deutschland lebende Schriftstellerin Lena Gorelik legt mit ihrer Erzählung aus dem wahren Leben laut Buchaufmachung eines dieser so beliebten "ganz anderen" Reisebücher vor, das Daheimgebliebenen auch Lust macht, wenn sie daheimbleiben werden - und das Petersburg-Reisenden Insiderwissen vermitteln soll, natürlich fern aller Klischees.

Was eignet sich besser dazu als die Ausgangskonstellation: Lena Gorelik besucht ihre Verwandtschaft in Petersburg und nimmt Jost, einen guten Freund mit, der ein guter Freund ist, aber eben nicht der Freund. Letzterer heißt Peter und sorgt mit seiner Abwesenheit für allerhand Verwirrung bei den Onkels und Tanten, die so gern einmal wieder eine Hochzeit erleben würden. Also werden die Leserinnen und Leser köstlich unterhalten, finden sich wieder zwischen Schaschlik bratenden Männern in der Datscha mit Plumpsklo, Herzchenkleider tragenden Bräuten und jeder Menge Gurkengläser. Ist das schon Russland? Ist das typisch Petersburg? Und welches Klischee über die Russen sollte ich mir zuerst aus dem Kopf putzen?

Ich lerne, dass in Russland (ebenso wie in Frankreich oder Italien) Alkohol nicht sinnlos gesoffen wird, sondern zu einem festgelegten gesellschaftlichen Genussritual gehört, das eben leider, Alkohol hat das so an sich, nebenher auch Alkoholiker produziert. Natürlich habe ich köstlich gelacht über die Beschreibung, wie man einen echten russischen Toast ausbringt, der zu jedem Glas dazu gehöre, aber mir bleibt dann das Lachen im Hals stecken, wenn behauptet wird (sogar im Klappentext), "Na Sdorowje" sei "Polnisch". Zu oft habe ich mit einem polnischen Toast und einem "Na Zdrowie" (!) in Polen mit Wodka angestoßen, wo übrigens das Klischee genau andersherum erzählt wird: Die Russen seien es, die das Zeug wasserglasweise ohne jeden Toast hinunterstürzten! Wer glaubt an das bessere Klischee? Nur der Wodka wird es wissen...

Überhaupt habe ich mich immer wieder gefragt: Ist das wirklich so russisch, so typisch Sankt Petersburg? Wer nie im ehemaligen Ostblock war, wird die Geschichten mit unvermindertem Vergnügen lesen, für westliche Vorstellung ist vieles einfach abstrus bis exotisch. Aber die Anekdote vom Abstellen der Wasserleitungen in einer Großstadt, was ganze Viertel dazu zwingt, sich für Wochen bei Freunden einzuquartieren, die konnte man genauso aus dem Warschau der 1990er erzählen - und wahrscheinlich erleben das alle Städte mit marode gewirtschafteten Fernheizungsleitungen. Gut, in Warschau kam man nicht grün gesprenkelt aus der Dusche, dafür gab es cola- oder lilafarbenes Wasser in der Badewanne; dafür lebte man bereits den Luxus, Wasser zum Trinken und Kochen nicht abkochen zu müssen, sondern in großen Mineralwasserbehältern frei Haus bestellen zu können. Und auch das Erreichen eines Touristenvisums erinnert an die Flintenweiber der DDR-Grenze, die Betonköpfe an allen ehemaligen Ostgrenzen und den Erfindungsreichtum einer aus dem Nichts wachsenden New Economy.

Lena Gorelik spießt mit ihrem klugen Witz insofern postkommunistische Zustände auf, macht die Verbiegungen durch das sowjetische System deutlich, aber auch den Hunger nach einer anderen Welt und die Sisyphusarbeit der Einzelnen, eben diesen rissig gewordenen Beton ganz aufzusprengen. Ihre Anekdoten werden einmal Geschichte sein, wenn sich ein breiterer Wohlstand etabliert; wenn nach dem Kampf ums Überleben Kraft und Zeit da sein werden, um das Leben nicht nur zu überleben, sondern zu gestalten. Die Autorin kratzt ein wenig am Nimbus der Weißen Nächte in Petersburg, ohne dass die ihren nicht auch unvergesslich blieben, sie sieht die russischen Frauen von außen mit der Brille der Fremdgewordenen - und träumt von Kindheitsgerüchen und Wandteppichen. Ihre Menschen sind liebenswert und lebensprall, witzig und tiefsinnig, und am liebsten möchte man gleich ihre gesamte russische Verwandtschaft adoptieren, in vollem Bewusstsein, dass einem so viel An-die-Brust-Drücken und Überfüttern auch gehörig auf die Nerven gehen könnte, wenn man das jeden Tag haben muss.

Trotzdem frage ich mich an jeder Stelle: Ist das russisch, ist das Petersburg? Die unbeweglichen Typen auf den Ämtern erlebe ich genauso in elsässischen Kommunen wie auf deutschen Konsulaten; die Korruption ist im Westen nicht ganz so kleinteilig und extrem, aber durchaus vorhanden. Und was die Gurken und den Dill betrifft, so sollte sich kein Russe Baden und Elsass versagen, wo die Läden derzeit vor Einmachgläsern und Zubehör strotzen und sich Nachbarn mit den größten Dillpflanzen gegenseitig ausstechen. Und wer bitteschön lächelt noch freiwillig auf der Straße, wenn das Leben im Alltag ein ständiger Kampf ist, wenn Leute im Service nicht wissen, was Service ist, und man obendrein von der Marktfrau blöd angemacht wird? Auch das habe ich in Polen gelernt, dieses Nicht-Mienenspiel von knallhart-cool bis arrogant-blasiert oder unbeeindruckt-brutal, das erstaunlicherweise auch auf französischen Ämtern in Gegenwart von Betonköpfen erstaunliche Dienste leistet. Ist das russisch?

Keine Frage: Goreliks kurzweiliges Buch ist feinsinnig, höchst unterhaltsam und mit klugem Witz gespickt. Um jedoch ein "anderes Reisebuch" zu sein, das mir womöglich Hunger auf Petersburg macht, bleibt es zu kleinteilig im Privaten. Das Abarbeiten an Klischees, der etwas bemühte Wunsch, sie aufzulösen, schreibt sie dagegen nur differenzierter fest. Die Russen so lerne ich, sind auf witzige und skurrile Weise abergläubisch, voll Liebe und Seele (mit ganz langem "ä"!), voll Wodka und Dillgurken. Halt, den Schaschlik habe ich vergessen, an dem der russische Mann sein Statut beweist wie der Franzose am gegrillten Coq.

Über die Stadt selbst erfahre ich, was ich aus Fremdenverkehrsprospekten längst weiß: Es gibt eine berauschende Architektur, faszinierende nördliche Sonnen- und Wetterverhältnisse, eine irre U-Bahn und einen besonderen Süßigkeitsladen. Dazu Kultur, Kultur, Kultur. Und das ist die Stelle, wo Lena Gorelik einmal wirklich ihrem Wunsch, Klischees abzubauen, sehr nahe kommt. Denn dass sich auch sehr einfache Leute und eine breite Mehrheit der Bevölkerung für Kunst und Kultur interessieren, ja "jeder ein kleines Feuilleton" sei - ist für den westlichen Leser überraschend. Das weckt nun wirklich die Lust auf Petersburg, seine jahrhundertealte Tradition in den Künsten. Und für die Daheimbleibenden ist es endlich ein Punkt, sich selbst und die eigene Kultur daran zu messen, zu vergleichen, nachzudenken und etwas mitzunehmen, zu lernen.

Menschen, die den ehemaligen Ostblock kennen, werden an diesem Buch nur bedingt Freude haben, weil für sie das Skurril-Exotische vertrauter und übrigens recht internationaler Alltag ist. Menschen, die dieses Leben nie auch nur im Urlaub kennengelernt haben, werden sich mit dem Büchlein prächtig und köstlich amüsieren, eingefleischte "Westler" können laut lachen. Wer als Tourist ohne Privatkontakte Petersburg bereist, wird Lena Goreliks Petersburg nie kennenlernen und darum vielleicht profitieren. Und wer alles geordnet, genormt, vorhersehbar, sicher und ruhig haben muss, wird nach diesem Buch garantiert nie einen Fuß nach Russland setzen. Mir hat es vor allem Lust auf die Menschen gemacht, weniger auf eine bestimmte Stadt. Für viel zu kurze, weil sehr kleine 169 Seiten Kurzweil (ich hätte noch ein paar Stunden weiterlesen können...) in einem grafisch nicht überragend gestalteten Bändchen fand ich allerdings den Preis von knapp 18 Euro recht heftig.

Lena Gorelik: Verliebt in Sankt Petersburg. Meine russische Reise. Schirmer Graf Verlag

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