Schmetterlingsmenschen

Eben habe ich beim Deutschlandfunk die Rezension von Andrea Maria Dusls neuem Roman "Channel 8" (Residenz Verlag) gelesen und beschlossen: Ich muss dieses Buch unbedingt haben! Nicht, weil es in Paris und Petersburg spielt, nein, so zwanghaft bin ich nun doch noch nicht. Es ist der Plot, der mich bestrickt: Ein Fernsehkorrespondent, der Sendungen fälscht, träumt eine Frau. Er träumt die Signale so echt, dass sie sich schließlich sogar auf Filmmaterial manifestieren. Und wenn eine erfundene oder erträumte Figur derart lebendig im Kopf erscheint, müsste man sie dann nicht im Leben, in der Realität wiederfinden können? Er macht sich auf die Suche ... (Die Rezension erzählt auch, was Schmetterlingsmenschen sind).

Ich muss das Buch schon deshalb lesen, weil es mich an einen meiner ganz persönlichen Kultfilme erinnert: Krzysztof Kieslowskis "Das doppelte Leben der Veronique", in dem eine französische Véronique in Krakau auf eine polnische Doppelgängerin namens Weronika trifft. In der Schlüsselszene dreht sie einen durchsichtigen Gummiball vor ihrem Auge. Diesen Gummiball habe ich in meinem zweiten Roman "Lavendelblues" auf S.66 ins Schaufenster des Ladens eines gewissen Dimitri gelegt - und zwar nur deshalb, damit ich ihn selbst nie vergessen werde, diesen Ball - und die Geschichte dazu.

Ich hatte Kieslowskis Film zuerst in der französischen Fassung gesehen, die mehr als die deutsche diese schwebende Magie zwischen der Wirklichkeit und einem "Daneben" vermittelt. In Warschau sah ich die polnische Version, völlig verzaubert, obwohl ich damals noch fast kein Wort verstand, verzaubert, weil mir plötzlich so ähnliche Dinge begegneten. Jener "Alte" im "Lavendelblues", an den Dimitri im Roman erinnert, hatte in der Warschauer Realität einen Laden, rannte heraus, als ich ins Schaufenster blickte, erkannte mich, bat mich zu sich, sprudelte los. Dabei waren wir uns noch nie im Leben begegnet. Und warum konnte ich einem Freund genau beschreiben, wie das obere Stockwerk der Warschauer Oper aussah, obwohl ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gebäude betrat?

Die Polen hatten eine einfache Erklärung für den "Weronika-Effekt", die Kieslowski in seinen Filmen immer wieder zum Thema gemacht hat: Przypadek, der Zufall, ist schon vom Wort her etwas, das wie in einer Parallelwelt auf perfekter Parallele neben dir herläuft. Und es gibt diesen einen Punkt, den man aktiv beeinflussen kann, mit einer winzigen Richtungsänderung. Nicht alle Menschen achten auf ihre ihnen eigenen Zufälle, aber ein kleiner Schritt in die richtige Richtung genügt. Die Parallelen werden sich dadurch unweigerlich schneiden.
Diese wahre erlebte Geschichte liegt nun also als Gummiball aus einem Film auf S. 66 in einem fiktiven Schaufenster in einem fiktionalisierten Baden-Baden. Denn den Laden gibt es nicht. Meine Freundin behauptet zwar, ihn in einem Friseurgeschäft identifiziert zu haben, aber ich bin mir sicher: Ich habe ihn erfunden. Was ist da noch real, was fiktiv?

Magisch ist das alles noch nicht. Magisch ist allenfalls, was ich mit meinen fiktiven Figuren erlebe. Bekanntlich suchen diese mich, nicht umgekehrt. Und manche sind ganz schön schwierig. So ging es mir mit einem, der ... sagen wir mal, Bäcker war und "Kaninchen" hieß (das Projekt liegt in der Schublade, Name und Beruf geändert). Was kämpfte ich mit dieser Figur, sie wollte sich partout nicht zeigen! Irgendwann hatte ich so die Nase voll, dass ich ihr den Figurentod androhte, wenn sie mir nicht endlich erzähle, was sie für ein Mensch sei. Herr Kaninchen, der Bäcker, blieb stumm.

Am nächsten Tag hatte ich eine Mail im Kasten. Es schrieb mir einer, der zufällig bei der Suche nach etwas völlig anderem auf meine Website geraten war und sich festgelesen hatte. Die muss ich kennenlernen, hatte er gedacht, und wollte sich mit mir übers Brötchenbacken austauschen. Denn der Wildfremde hieß mit Namen Hase und war Bäcker. Wir lernten uns tatsächlich im Leben kennen, weil ich irgendwann beruflich mit seinen Brötchen zu tun hatte. Ich habe es bis heute nicht begriffen, wie mein Herr Kaninchen auch äußerlich dem Herrn Hase so ähneln konnte. Da stand meine Figur in der sogenannten Realität und ich hätte nur noch abschreiben brauchen. Aber so, wie der echte Kontakt im Sande verlief, schlief auch das Projekt ein.

Ich wundere mich kaum, wenn ich im richtigen Moment die richtigen Menschen kennenlerne oder mir im richtigen Moment das richtige Buch unter die Finger gerät ("Channel 8" muss so eins sein). Schließlich lebt das alles parallel neben mir her - ich habe nur einfach den richtigen Schritt vom Weg ab gemacht. So supervernünftig erkläre ich mir gern die Welt, vor allem in Momenten, in denen mich fiktive Figuren piesacken. Da ist eine namenlose Frau auf einem kleinen Flughafen in den Sümpfen aufgetaucht, die mir seitenweise von einem Ziel erzählt, das sie bewusst vermeidet. Supervernünftig ist, dass ich ja ohnehin im echten Leben eine Reise in einen trockengelegten Sumpf plane, dass ich selbst im Niemandsland zwischen Sümpfen geboren bin, Sumpfkind also. Intuition nennt man das, schriftstellerische Parallele, man bedient sich an offensichtlichen Metaphern. Kein Grund für einen przypadek also.

Richtig gruslig wurde mir erst, als ich vor knapp zwei Monaten in einem Nachlass verheimlichte Unterlagen fand, die meine Wurzeln bis nach Lemberg / Lviv verlegten. Seit einem Jahr gibt es diesen Entwurf in der Geschichte mit der namenlosen Frau am Flughafen, wo eine Weronika (!) nach Lemberg ... Nein, auch das ist supervernünftig, Schriftsteller schrammen immer nur scheinbar am Verrückten vorbei, schließlich ist seit Freud alles erklärbar und seit Einstein sowieso. Und es ist doch absolut logisch, in einem Projekt über Zwischenräume und Grenzen ausgerechnet diese Stadt auszuwählen und eben nicht Rio de Janeiro oder Berlin oder Bonn oder Stettin! Es ist unser Arbeitsalltag. Schnöde Realität. Langweilige Wirklichkeit.

Wenn da nicht J. wäre. J. hat sich vor rund drei Wochen in meinem Gehirn eingenistet und verlangt, mitspielen zu dürfen, obwohl mir das meine ganze Idee zum Einsturz, sprich Umsturz bringt. J. ist eine dieser widerspenstigen Figuren, die mir noch nicht einmal einen Nachnamen verrät, keinen Beruf, keine Vorlieben oder Macken, keine Verbindungen zu den anderen Protagonisten. Ich habe J. angebrüllt, dass ich ihn nicht brauche, dass ich nicht mal weiß, wie ich ihn beschreiben soll. Ich habe ihm eine Frist gesetzt. Entweder er packt aus, oder er fliegt als fiktive Figur aus dem Projekt, in das er sich hineindrängeln will. Er hat gelacht. Mir eine Nase gedreht. Wirst schon sehen, hat er gesagt, wirst schon sehen, was du dir damit antust. Und dann ist er unverschämt geworden, ich sei ja wie die Namenlose, die sich nicht traut, endlich abzufliegen.

Wie viel Frechheit muss man sich von fiktiven Figuren bieten lassen? Heißt es nicht, Schriftsteller müssten Plot und Figuren und all das liebe Handwerk eben dort, nämlich in der Hand haben? J. nervt. Er ist so verdammt echt, dass man ihm mit dem Radiergummi schon nicht mehr an Leib und Leben kann. Aber er ist noch nicht echt genug, um ihn überhaupt in Worten skizzieren zu können. J. gruselt mich trotzdem mehr als die Namenlose oder die Lemberger Weronika, weil ich ihn als Figur nicht mehr in der Hand habe. Vielleicht auch deshalb, weil mir in letzter Zeit seltsame Zufälle begegnen, die ...

Nein, daran will ich gar nicht erst denken. Deshalb will ich Andrea Maria Dusls "Channel 8" lesen. Weil ich mich dann vergewissern kann, dass die Schmetterlingsmenschen nicht auch noch mich nerven müssen. Sollen sie alle zu ihr ins Buch schlüpfen. Wo sollen wir schließlich hinkommen, wenn wir Autoren selbst Fiktion und Leben nicht mehr sauber trennen können! Wir müssen doch... !

Jetzt hat er zum ersten Mal gelächelt, der J. Das geht durch und durch. Ich fürchte, ich bekomme ihn aus dieser Geschichte nicht mehr heraus. Aber diesen einen Schritt im Sumpf, gegen die Parallele ... nein, nicht mit mir, ich doch nicht!

Lesetipp:
Andrea Maria Dusl: Channel 8, Roman, Residenz Verlag
Gucktipp:
Krzysztof Kieslowski: Das doppelte Leben derVéronique / Die zwei Leben der Weronika
Hörtipp:
Zbigniew Preisner: La double vie de Véronique, Filmsoundtrack
Unverschämtes Product-Placement:
Petra van Cronenburg: Lavendelblues, Roman, BLT bei Lübbe (antiquarisch)

Dieser Beitrag ist keine Prokrastination in Sachen Deadline, sondern Ausdruck schriftstellerischer Entzugserscheinungen.

6 Kommentare:

  1. Mit mir auch nicht, wäre doch gelacht! Pah...

    (Danke, Petra, für diese aberwitzige Erinnerung daran, dass Synchronizitäten wat völlich normalet sind!)

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  2. Aaaaahhh... das war's! Ich hab nur so lang schwadroniert, weil ich vergeblich nach diesem Wort gesucht habe, das ich mir nie merken kann! ;-)

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  3. @simona
    Kleines Filmchen für dich:
    http://www.youtube.com/watch?v=FrUqfAbx1-w

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  4. Oh merci, Benjamin Button, guter Film! Mein Lieblingszitat daraus ist ja> http://bit.ly/dAGfWG.

    Ich mach mir auch nicht allzuviel aus Zufällen. Mir scheint, es gibt da für jedes noch so kleine Ereignis ein ganzes Gewebe aus Auslösern, Ursachen, Förderern und Nicht-Verhinderern. Wir haben nur nicht alle vor Augen und verstehen oft nicht alle Zusammenhänge. Also nennen wir es Zufall (oder gern auch Schicksal). Dieses Thema eignet sich für abendfüllende Diskussionen, verwirrende Filmplots und literarische Kunstgriffe gleichermaßen ;-)

    Deiner Filmempfehlung zu Kieslowski werde ich übrigens nachgehen! Ich kenne von ihm nur die Drei-Farben-Trilogie und denke, dass ich gern mehr von ihm sehen möchte...

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  5. Feines Zitat. Der Film ist ja sehr frei nach F. Scott Fitzgeralds "The Curious Case" - hast du das mal gelesen? (Ich kenne leider beides nicht).

    Véronique kann ich dir nach der Farben-Trilogie nur empfehlen, sehr viel mehr als den Dekalog, der nicht ganz einfach ist.

    "Zufall": Ich denke schon, dass man ihn fördern kann, anstatt hilflos darauf zu warten. Indem man z.B. gezielt Förderer versucht kennenzulernen (Prinzip des Netzwerkens arbeitet so), hat man zwar keine Garantie, aber die Wahrscheinlichkeit steigt.

    Fokussieren kitzelt auch "Zufälle" heraus. Das merke ich z.B. seit mein Schreiben und meine Brotarbeit eine rote Linie bilden und ganz starke Gemeinsamkeiten haben, da passieren dann Dinge, die im wilden Chaos und bei Verzettelung eher punktuell aufgetreten wären. Aber das Schöne ist, der wahre dolle Zufall, den sieht man natürlich nicht. ;-)

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  6. Ja, das Original habe ich gelesen, allerdings erst nach dem Film. Hat mir, wie auch die filmische Adaption, sehr gut gefallen. Der Text ist im engl. Original online verfügbar und nicht besonders lang, falls Du lesen magst: http://www.readbookonline.net/read/690/10628/.

    Und jetzt gehe ich mal wieder Zufälle generieren ;-)

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