Menschen, die von innen leuchten

Ein kleiner Junge überlebt die Hölle stalinistischer Kinderheime mit ihren folterähnlichen Methoden, bricht aus einem "Kinderknast" in Sibirien aus und schlägt sich zu Fuß durch nach Leningrad. Zwei Drähte retten ihn immer wieder vor dem Hungertod, zwei genau abgemessene Drähte, aus denen er in Windeseile die Silhouetten der Genossen Stalin und Lenin biegen kann. Sein erstes Handwerk für einen Kanten Brot, ein paar Schluck Suppe. Schon hat er den Blick des Malers, des Künstlers - aber das weiß er zu dieser Zeit noch nicht, und gegen das Verrecken auf der Straße bleiben erst einmal nur die Diebe und ihre Organisationen.

Eine Straßennutte aus dem Petrograder Elend stirbt auf tragische Weise, die anderen Huren ziehen ihre kleine Waise auf. Nicht was logisch sein könnte, folgt. Eines Tages ist der gesamte zweite Rang des Kirow-Theaters mit den selbsternannten Adoptivmüttern besetzt, die so bildreiche Namen tragen wie Tätowierte Muska oder Verdorbene Arischka und die Theatergäste mit ihrem Jargon in Verlegenheiten bringen. Sie machen sich über "Naphtalinschnepfen" lustig oder herrschen sich an: "...musst du die Glupschen so ausfahren und die Knutschritze aufreißen?"

Skurrile Gestalten sind es manchmal, öfter noch einfachste Menschen von tragischer Größe, Traurige, die von innen zu leuchten scheinen, Verzweifelte und Verschmitzte, Unbekümmerte und Durchbeißertypen - eine Versammlung von Menschen, die man von russischen Klassikern her zu kennen meint, weil so dichtes Menschsein selbst in Büchern gern vermieden wird. So schnell man das Buch "Die Engelspuppe" aus dem persona verlag für einen Ausbund schillernder Phantasie und hervorragend komponierter Fiktion halten möchte, weil es dann vielleicht erträglicher wäre - sein Autor ist eben dieser Junge mit den Drähten. Eduard Kotschergin, international ausgezeichneter Bühnenbildner und heute Leiter am Towstonogow-Theater in Sankt Petersburg, hat mit seiner Erzählsammlung Ungewöhnliches vorgelegt: Die Erzählungen bilden eigentlich einen Roman, den Roman eines fast unvorstellbaren Lebens.

Anders als viele andere Geschichten über schwere menschliche Schicksale erzählt Kotschergin in einer fast leicht zu nennenden Distanz und lebendigen Sprache, so dass die scheinbar fiktiven Menschen, die doch echt waren, über sich hinauswachsen. Für die Übersetzer Renate und Thomas Reschke und Ganna-Maria Braungart muss die Übertragung eine Hochleistungsarbeit gewesen sein. Ob Verbrecher oder Folterer, ob gütige Menschen am Wegesrand, Straßenhuren oder Kinderdiebe - sie alle werden zu etwas, was der Roman als Genre sonst nur im Idealfall schafft - zu Platzhaltern des Menschseins. Und das ist im Falle dieses Buches trotz des Themas nicht trist, sondern knallbunt. Beschrieben in einer von Lebendigsein und genauer Beobachtungsgabe sprühenden Sprache zwischen Poesie und Jargon, zwischen spannendem Erzählton und kindlichem Staunen, das der Autor zum Glück in keinem Alter zu verlieren scheint. Überhaupt - er hat diesen Blick für Menschen, der eine Gabe ist.

Sein Blick überträgt sich vor allem bei den Brüchen in jenen Menschen und in tragikkomischen Situationen auf den Leser. Da schreibt einer, der seine Figuren nicht um jeden Preis durch eine an Höhepunkten grell beleuchtete Handlung jagen will. Da schreibt einer, der Schauen gelernt hat, Innehalten - und der trotz allem oder vielleicht deshalb noch staunen kann. Jenseits seiner Geschichten fangen die Figuren gleichsam zu wispern an: Was ist der Mensch, was will der Mensch? Der verwöhnte westliche Leser im weichen Lesesessel, falls vom Wohlstand noch nicht völlig betäubt, fragt sich mit Überraschung, warum ihm die "Polypenarschlecker" und "Höllenhyänen", das "Himpelchen-Pimpelchen", die "Matrosenpritsche" oder die "Leninpark-Motten" so unheimlich nahe stehen. Jene haben vielleicht noch fester und deutlicher im Blick, was er nie zu verlieren wünscht: Menschliche Würde und Freiheit. Bewahrt im zähen Überlebenskampf, in fortwährender Improvisation. Und selbst im offensichtlichen Verlust wenigstens als Traum vorhanden. Zum Russland der Jetztzeit, in dem das Buch schließlich ankommt, schreibt Eduard Kotschergin einen letzten Satz: "Ja, Russland, dein Leben findet am Morgen statt - ein Leben der Erwartung."

So sprachgewaltig und schlicht, seelentief und leicht das alles beschrieben ist - mir ging in diesem Buch etwas ganz anderes an die Nieren, gesehen mit Autorenblick. Gerade durch die Lektüre russischer Klassiker frage ich mich seit langem, wie man Figuren schöpfen kann, die einem so lebendig vor Augen stehen, als seien sie berührbar, als würden sie gleich mit einem in ein Zwiegespräch treten. Figuren, denen man nachtrauert, wenn man ein Buch ausgelesen zuschlägt, und die einen über Jahre begleiten können - bis man das Buch unbedingt noch einmal lesen muss. Eduard Kotschergin ist ein Meister darin.

Nun könnte man entgegnen, er habe es leichter als andere, schließlich müsse er nichts erfinden, schreibe nach eigenen Erlebnissen. Doch wie viele wahre Menschen und reale Vorbilder geraten in Büchern zu Pappfiguren, zu Zerrbildern ihrer selbst, zu leeren Schablonen? Als würde jener kleine Junge seine lachhaften, machtaufgeblasenen Genossen mit Draht zu leeren Silhouetten biegen... Als verkämen Menschen in der Effekthascherei um einen größeren Kanten Brot in manchen Büchern zu marktgenehmen, nicht mehr berührenden Typen.

Nach der Lektüre von Eduard Kotschergins "Die Engelspuppe" habe ich das Gefühl, meiner Suche ein Stückchen näher gekommen zu sein. Ich habe seither das Gefühl, "Schreibenkönnen" beginne überhaupt nicht beim Schreiben und schon gar nicht beim Erlernen irgendwelcher Kniffe. Wenn ich es richtig lese, beginnt "Schreibenkönnen" da, wo man lernt, Menschen zu lieben, in ihrem So-Sein zu lieben. Jedenfalls atmet mir das aus jeder Seite dieses wunderbaren Buchs entgegen.

Achtung Termin! Berliner können morgen Eduard Kotschergin bei einer deutsch-russischen Lesung persönlich kennenlernen. (Anklicken)


PS: Weil es mir leider nicht vergönnt ist, nach Berlin zu kommen, ich aber weiß, dass meine Rezension dorthin fliegen wird - ich möchte dem Autor ganz schlicht DANKE sagen, спасибо. Für all das, was ich lernen durfte.


PPS: Einen Wermutstropfen bei der deutschen Übersetzung gab es allerdings. Ich habe erfahren, dass noch nicht alle Texte übersetzt wurden (was natürlich verständlich ist bei einem so aufwändigen Projekt). Ich würde in Zukunft aber gern mehr von Eduard Kotschergin lesen!

Eduard Kotschergin: Die Engelspuppe (Erzählungen), persona verlag Mannheim

2 Kommentare:

  1. Danke fuer diese persoenliche und somit wertvolle Rezension die mir das weitergibt was der Autor Ihnen vermittelt hat.

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  2. Liebe Petra,

    auf diesem Wege danke ich dir für diese eindrucksvolle Rezension. Ich habe sie soeben gelesen und bin ergriffen.


    Viele Grüße

    Klappentexterin

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