Wehret den Anfängen?

Was für ein Jahr! Anfang 2014 begannen wir, des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs zu gedenken, dieses Wahnsinns, der ein fortschrittliches, künstlerisch äußerst fruchtbares Europa zu Dreck zermalmte. Ein Europa, dessen Avantgarde von Paris bis Petersburg reichte und dessen Künste von Emigranten, Immigranten, Migranten gemeinsam mit Einheimischen getragen wurden. Ein Jahr lang versuchten wir uns vorzustellen, warum 1914 trotzdem plötzlich alle jubelten. Der falsche Jubel gebar die erste "industrielle" Vernichtung von Millionen von Leben, von Zivilisation und Kultur - durch moderne Massenvernichtungswaffen und Giftgas. Wir versuchten in diesem Jahr, uns den Horror vorzustellen, wenn Bruder auf Bruder schoss, wenn Frauen ihre Väter, Brüder, Geliebten und Söhne verloren und brutal vergewaltigt oder hingemetzelt wurden. Nie wieder! Betroffen schüttelten wir uns kurz. Es ist alles schon so undenkbar weit weg. Die Augenzeugen sind fast schon ausgestorben. Unvorstellbar, dass der Mensch derart zur Bestie wurde, wie es fast nur noch die Literatur auf Gefühlsebene vermitteln kann (Buchtipp).


Friedenskirche Froeschwiller / Elsass (1876): Nie wieder Krieg? Fast 19.000 tote deutsche und französische Soldaten allein in der Schlacht um dieses Dorf 1870. Es folgten trotzdem die zwei schlimmsten Weltkriege der Menschheit.

Wir wollen das nie wieder, dachten viele in ihren warmen, behaglichen vier Wänden. Nie mehr Rassismus. Nie mehr ein Nationalismus, der andere nicht gelten lässt und auf Kosten anderer expandiert. Nie wieder Fanatismus, Extremismus und die gefährlichste Ausrede allen gefährlichen Handelns: dass man das doch fürs "Vaterland" tun müsse. "Wehret den Anfängen", sagte meine Großmutter nach dem Zweiten, noch entmenschlichteren Weltkrieg. Der endete - wir gedenken nächstes Jahr - dann vor genau 70 Jahren. Und er begann vor 75 Jahren. Alles zu lange her? Alles schon vergessen?

Plötzlich kam der Schock. Dass unsere Welt immer komplexer wird und sich vieles im Umbruch befindet, fühlen die meisten zumindest unterschwellig. Dass aber Zivilisation nur eine extrem dünne Schutzschicht über der Verrohung bildet, das machen sich viel zu wenige klar. Auf einmal schien unsere Welt umgekippt: Die Annektion der Krim, die Ukrainekrise, der unvorstellbare Wahnsinn der IS, der kein Wahnsinn ist, sondern eiskaltes Kalkül. Und unversehens scheint es, als wäre Deutschland verrückt geworden ... Dabei hätte man es kommen sehen können: Pegida und wie sich all die Ableger bis hin zum Stupida nennen. Ein Rechtsruck hat das Land erfasst, plötzlich hört man rassistische, populistische, einfach nur dumme, aber auch eindeutig faschistische, menschenverachtende Parolen ausgerechnet in dem Land, von dem der Horror einst ausging und wo man sich geschworen hatte: Nie wieder! Wehret den Anfängen!

Zu viele Sonnenprotuberanzen? Sternbilder im Clinch? Böse Drogen im Trinkwasser? Es blühen die Verschwörungstheorien und es sind wieder die altbekannten von damals, nur aufgehübscht auf Social Media Pepp. Selbst die IS geriert sich wie eine Popgruppe, die Fans mit Musikvideos abfischt; Anhänger, die testosteronstrotzend morden und sengen - und selbst brutalst ermordet werden, wenn sie aufwachen aus dem Blutrausch und wieder Mensch sein wollen. Fassungslosigkeit allerorten. Wie hat das alles passieren können, so plötzlich? Könnte es sein, dass wir alle morgen aufwachen und alles war nur ein böser Traum und ist nicht mehr da?

Schön wäre es. Aber es verhält sich genau andersherum. Wir haben nämlich die vergangenen Jahre viel zu tief den Schlaf der Gerechten geschlafen. Haben nichts dazu gesagt, wenn der hochgelobte Manager beim Stehempfang sich rassistisch äußerte. Haben weggeklickt, wenn von brennenden Asylantenunterkünften berichtet wurde. Haben uns ins Kuschlige zurückgezogen, wenn sich Kunden beim Bäcker anhörten wie Uraltfaschisten. Und jetzt haben wir plötzlich diese Fernbedienung fürs Leben verlegt, können all das nicht mehr wegklicken, was eine logische Entwicklung der letzten Jahre war. Ach, nicht nur der letzten Jahre. Vieles fußt noch in Zeiten des Kolonialismus, tief in der nie wirklich aufgearbeiteten Vergangenheit.

Die ach so komplexe Welt drischt auf uns ein, medial verstärkt auf den Horror, weil sich der besser verkauft als gute Nachrichten. Wir wollen es so und machen alle mit: Quote und Profit. Die Grundsteine wurden nicht zuletzt von der Konsumhaltung gelegt, die alles, wirklich alles im Leben zu Geldwerten umdefiniert. Wir hätten es sehen können, viele haben es kommen sehen. Aber dann waren wir einfach oft nur zu bequem, uns damit zu befassen. Und jetzt kommen die ganz besonders Bequemen und die Ängstlichen aus ihren Löchern und wollen sich eine noch engere Welt erschaffen? Denn Enge, das meinen sie, sei Sicherheit. Wenn kein Fremder mehr stört - wie in einer Sekte. Und die anderen, die "Guten"? Die benennen die im Umfeld von Pegida gern mit Etiketten wie "Wahnsinnige", "Dumme", "Ungebildete".

Schon wieder reden wir uns die Gefahren gemütlich klein und übersichtlich. Mag sein, dass Rattenfänger immer einen ganzen Schwarm von Blöden und Ungebildeten hinter sich herziehen. Aber die Rattenfänger selbst sind nicht dumm. Sie stammen aus allen Gesellschafts- und Bildungsschichten, auch den höchsten. Sie kalkulieren eiskalt und wissen, wie man Menschen manipuliert, sind längst innerhalb von Europa eng vernetzt, manchmal noch weiter. Sie sind auch nicht "wahnsinnig", denn sie wissen genau, was sie tun, handeln vorsätzlich, treffen eine klare Entscheidung. Um bei einer Demonstration mitzulaufen, muss ich mich entscheiden, aufraffen, hingehen. Ich mache das nicht aus Versehen. Jetzt müssen sich die Anständigen entscheiden: Wollen wir das weiter klein und lächerlich reden, damit wir es nicht so ernst nehmen müssen? Oder entscheiden wir uns für Rückgrat gegen die Menschenverachtung, gegen Typen, die an unserer mühsam errungenen Zivilisation so lange kratzen, bis wieder die Verrohung zum Vorschein kommt? Zivilcourage: Heute hindert uns keiner daran. Wir sind nicht an Leib und Leben bedroht, wenn wir sie zeigen. Unsere Demokratie befähigt uns, für ihre Werte einzustehen. Sie fordert es geradezu.

Was für ein Jahr! An dieser Stelle steht sonst ein sehr persönlicher Jahresrückblick. Aber Politik ist auch eine sehr persönliche Angelegenheit. Ich kann mich dem Geschehen in der Welt nicht entziehen.

Im Mai habe ich die Premiere meines ersten Theaterstücks gefeiert: "Jeux. Russische Spiele in Baden-Baden". Das Kammerstück spielt am Vorabend von 1914 und spiegelt auf persönlicher Ebene des Paars Nijinsky und Diaghilew die brodelnde Weltlage. Zwei Emigranten voller Sehnsüchte. Anspielungen auf unsere Zeit waren nicht zufällig. Zwei Tage vor der Premiere fanden in der Ukraine kurz nach dem Verlust der Krim Präsidentschaftswahlen statt. Zur gleichen Zeit rutschte bei den Europawahlen ein erschreckender Anteil von Wählern nach extrem rechts.

Mein Stück bekam plötzlich Bedeutungen, die ich zu Anfang meines Schreibens nie hätte erahnen wollen. Mein berufliches und damit auch privates Jahr 2014 war plötzlich direkt betroffen von der Weltlage. Wer mich kennt, der weiß, dass ich oft an binationalen Projekten arbeite - zwischen Deutschland und Frankreich, Deutschland und Russland. Auch in meiner Kunst kann ich die Weltlage nie ausblenden, weil mir Nabelschau zu wenig wäre.
Intensiv war das. Ich erlebte in der schlimmsten Krise Russinnen und Ukrainerinnen friedlich an einem Tisch. Ich erlebte aber auch Menschen, die extremer wurden, die sich fanatisierten oder die Seiten wechselten. Mein Jahr ist geprägt von zwischenmenschlicher Schönheit und menschlichen Abgründen. Aber die Politik, diese Umtriebe - die waren in den meisten Fällen bei den Menschen, auf die ich traf, nur ein schnöder Vorwand. Hinter der Fassade die alten menschlichen Untugenden: Prätention, Geltungswahn. Gier nach Geld oder Pöstchen oder irgendeiner zweifelhaften Anerkennung. Manipulation statt Empathie und übersteigertes Ego statt Demut.

2014 war für mich ein Jahr, in dem die potemkin'schen Dörfer sichtbar wurden, weil so viele scheinbar schöne Fassaden einstürzten. Es fühlt sich nie schön an, wenn man sich Irrtum eingestehen muss oder von Menschen enttäuscht wird. Aber es ist auch eine Ent-Täuschung. Einmal in der Realität angelangt, weitet sich wieder der Blick für all das Schöne, Gute, Wertvolle, für das es sich zu leben lohnt.

Es waren in diesem Jahr eher die unbequemen und nicht so leicht zu nehmenden Menschen, die mich beflügelten. Die Menschen mit Rückgrat und ohne verborgene Gier oder offene Missgunst. Dabei steht mir wieder Vaslav Nijinsky vor Augen, der leider am Ersten Weltkrieg irre wurde und zerbrach. In meinem Theaterstück spricht er aus, was wir uns wohl alle wünschen. Was uns aber nicht ohne unser Zutun zufällt. Wir müssen es uns immer wieder von Neuem erringen, darum kämpfen, es beschützen, auch, wenn alles um uns herum andere Vorzeichen zu zeigen scheint.
"Ich will Menschenliebe. Ich liebe die Menschen. Ich will, dass das Publikum diese Liebe empfindet, dort unten, im Dunkeln. Dass dieser Funke überspringt, wenn die Musik beginnt. Alles ist still. Dann tönt eine andere Welt, in der alles zu Bewegung wird. In mir wird die Liebe zur Bewegung. Solche Erfüllung suche ich ..."
Nijinsky spricht im Theaterstück von etwas, das die Kunst erfüllt und die Kultur befeuert. Es ist der Zauber, den uns Extremisten und Populisten nehmen wollen, denn sie lieben Ideologien, nicht Menschen. Wehret den Anfängen! Und lasst uns noch mehr als bisher die Geschichten erzählen, die die Welt ein bißchen besser machen.

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