Opa Wassili - oder die vertrocknete Gala
Eine meiner französischen Freundinnen ist genervt von ihrem Nachbarn, weil der Samstag abends wie ein Berserker mit der Kettensäge an seiner Baumhecke herumfuhrwerkt - während sie in Frieden ihre Grillfeste genießen will. Letzte Woche ging sie freundlich auf ihn zu und meinte, sie habe beobachtet, wie er immer Samstag abends so perfekt die Bäume verschneide, ob er ihr einen Riesengefallen tun könne: Ihre Hecke stutzen, ihr fehle das Werkzeug. Beim nächsten Grillfest kam der Nachbar strahlend an und verschnitt ihr die komplette Hecke. Sie lud ihn auf ein Gläschen ein. Seitdem ist Samstags Ruhe, der Nachbar hat sein Gesicht gewahrt und es kam nicht zum nachbarlichen Kleinkrieg. Beide profitieren.
Exposition 2:
Als ich Anfang der 1990er in Warschau lebte und arbeitete, war ich zur "großartigen" Lancierung des neuen Albums einer Popsängerin eingeladen. Album und Sängerin sind heute weltbekannt. Wir feierten damals in fast studentisch-verwandtschaftlicher Atmosphäre in einem Restaurant bei einem üblen Gesöff von billigstem russischen Sekt und polnischem Wodka. Nichts funktionierte wirklich, aber die Stimmung war glänzend. Und man hatte den Eindruck: Wow, endlich ist dieser verdammte eiserne Vorhang weg - und es tut sich Faszinierendes im Osten. Irgendwann wurde das Restaurant von Granaten der Mafia verwüstet, weil die Wirtin kein Schutzgeld zahlen wollte. Wir gingen zur Neueinweihung wieder hin. Es tat sich was im Osten.
Reden über Russland in Zeiten der Ukrainekrise |
Das Drama:
Gestern begannen in mehreren europäischen Staaten (Deutschland, Frankreich, Schweiz, Luxemburg) die "Russischen Tage in Europa" - mit einer großen Gala-Eröffnung im Baden-Badener Kurhaus. Noch im letzten Jahr hatte ich vom Straßencafé aus gestaunt, wie illustre oder einfach nur sehr bunte Gäste aus so ziemlich allen ehemaligen Sowjetrepubliken sich dafür herausgeputzt hatten - diesmal war ich selbst mittendrin. Seit zwei Jahren gibt es die Kulturveranstaltung, bei der Russland die Crème de la Crème seiner Kultur aufbietet, aus Theater, Ballett, Film und Musik - in diesem Jahr hat man das Business dazugesellt, weil Kultur bekanntlich auch Sponsoren braucht ... und weil es schwierig geworden ist, offizielle Orte gegenseitigen Verhandelns zu finden. Ich war vor allem aus einem Grund da: um das weltberühmte Boris Eifmann Ballett sehen zu können. Denn ich bin schneller in Baden-Baden als in London, Paris oder New York.
Einziger Lichtblick: Das Boris Eifmann Ballett aus Petersburg |
Wir machten es uns auf den hintersten Rängen mit Hustenbonbons bequem und konnten dort wenigstens mehrsprachig ablästern. Die Luxus-Gala erinnerte mich fatal an jenes Lancierungsfest damals in Polen - aber dort hatte es wenigstens billigsten russischen Apfelschaumwein gratis für alle gegeben! Die Prominenz, die sich für 120 Euro einen Platz an einem der gedeckten Tische ergattert hatte, musste sich die Getränke nämlich auch selbst holen. Einen einzigen winzigen Tresen mit einer einzigen Angestellten gab es für den gesamten Benazetsaal. Und die arme Frau schuftete im Dunkeln, hatte weder Lampe noch Kerzenlicht zur Verfügung. Die Warteschlange davor durchzuhalten, dazu brauchte es schon jahrzehntelanges Training in sowjetischem Schlangestehen! Und wer es geschafft hatte, ohne zu verdursten, lief außerhalb der Pause herum und sorgte für Unruhe bei der Vorstellung. Zurücklaufen musste man außerdem, wenn man die zwei Euro Glaspfand zurückhaben wollte. Als ob Russen Billiggläser mitgingen ließen!
Alles zunächst nicht so schlimm. Der russische Botschafter, der Oberbürgermeister und irgend ein wichtiger Deutscher, Ehemaliger von Irgendwas, hielten Begrüßungsreden. Die Ukraine war immer dabei. Eine Unschuld in den Beziehungen gibt es nicht mehr. Und doch waren sich alle einig in dem, was wohl auch ein Großteil des Publikums dachte: Lasst uns verdammt noch mal nicht all das, was wir nach zwei schlimmsten Weltkriegen erlebt und aufgebaut haben, zunichte machen. Kein Konflikt ist das wert! Schafft nicht eine Gesprächsplattform nach der anderen durch Sanktionen ab - wir reden noch lange nicht genug miteinander. Vor allem aber achtet auf Worte - Worte können derzeit so vieles entscheiden, anheizen oder deeskalieren.
Ich kann nur extrem wenig Russisch verstehen, nur ungefähr folgen, um welches Thema es geht. Aber so viel habe selbst ich verstanden. Nicht verstanden habe ich - wie viele im Publikum, dass man für ein derart wichtiges, kitzliges Ereignis dann eine Dolmetscherin holt, die keinen einzigen Satz der vorgefertigten, schriftlich vorliegenden Reden ohne zu stottern herausbrachte ... und vielleicht auch noch so ohne Nuscheln, dass Deutsche das Deutsch hätten verstehen können. Es war eine Qual.
Auf der Bühne ging es ungefähr so professionell zu wie bei Opa Wassilis hundertstem Geburtstag, wenn ihm die Oma die Worte der Kommunalpolitiker abgekürzt ins Ohr brüllt. So viel Geld, ein ach so hochkarätiges (?) Ereignis - und man kann sich in der Stadt des Südwestfunks nicht einmal Profimoderatoren leisten? Vielleicht hätte man beim russischen Kabelfernsehen statt der aufwändigen Tragetüten für die Werbeprospekte eine Fachkraft finden können? - Auch das war fein - Programmhefte gab es nur für die Prominenz. Unsereins hat mitbekommen, dass drei Leute irgend einen genuschelten Preis verliehen bekamen, eine Dame, die die Petersburger Dialoge mit aufgebaut hatte; eine Dame, die mit sichtlicher Gemütlichkeit alle möglichen Meriten und Titel von der Professorin bis zu anderem Genuschelten trug ... und ein Ex-Jugendredakteur, der es dann endlich mit Grandezza schaffte, die Übersetzerin an die Wand zu reden.
Der nämlich gab den Opa Wassili, sichtlich angetan von den Bühnenschönheiten, nach denen auch ich mich schon umgedreht hatte. Die Frau mit den hüftlangen blonden Wallehaaren im Feenkleid schien aber auch wirklich einem Märchen entstiegen. Der Redakteur geriet offen und laut ins Schwärmen, dass die Welt ohne Frauen einfach nichts sei .... und gleich deklamierte er völlig spontan und sichtlich unvermutet zwei oder drei Gedichte auf die Schönheit der Frauen, anstatt eine Rede zu halten. Es war das erste und einzige Mal, dass so etwas wie Stimmung aufkam im Saal und man etwas von der russischen Art ahnen konnte. Irgend welche berühmten Leute, so normal wie Opa Wassili - und mit einem schier überlaufenden Herz. Ach, wenn man doch mit Opa Wassili jeden Tag Geburtstag feiern könnte, ohne dass einem die Politiker alle Freude kaputtmachen! Wenn man doch noch öfter solch grandiose Darbietungen genießen könnte wie das Potpourri des Balletts.
Aber! Ganz großes Aber. Auf den hinteren Idiotenplätzen hatten wir das Vergnügen, den Männern im Technikraum über uns beim Telefonieren, Herumbrüllen und Quatschen zuhören zu dürfen. Irgend ein Wahnsinniger hatte dort das Fenster in den Saal aufgemacht. Und die gaben auch an den Pianostellen keine Ruhe. Als die Tänzer endlich beginnen konnten, war ich schon halb im Vertrocknungsschock, regte mich ungemein über die schlechten Übersetzungen und die noch schlechtere Moderation derselben auf, über die Techniker sowieso ... es war nicht leicht, hineinzukommen in den Zauber. Und trotzdem hatte ich bei "Anna Karenina" Gänsehaut von Kopf bis Fuß. Dann war alles viel zu schnell vorbei, keine Ansage, wann Pausen oder ein Ende vorgesehen waren - es war das Ende. Ich war hin und weg, war dann auch hin und weg vom Publikum, das auf den teuren Rängen so gut wie gar nicht klatschte und auf den restlichen eigentlich in Bravorufe hätte ausbrechen müssen. Kulturbanausen, schimpfte eine Russin, Plebs. Dabei waren ganz vorn berühmte Schauspieler und Prominente gesessen, die hätten wissen müssen, wie sich Künstler von Applaus ernähren. Eigenartig.
Selbst die Gaslaternen verlieren ihre Unschuld |
Noch nie habe ich derart gierig mein lauwarmes "Carola Vert" im Auto leergesoffen. Und dann wurde mir ganz komisch. Ein gewisser Jazenjuk redete im Radio den dritten Weltkrieg herbei. Hatte der etwa auch kein Geld für eine anständige Redenschreiberin? Hat sich der Mann schon mal selbst zugehört? Und warum beleuchtet man den nicht mal genauer in seinem Vorleben, wo er doch auch nie eine Miene verzieht ...
Ich war wahrscheinlich derart einem Trockenschock erlegen, dass ich plötzlich das Gefühl hatte, in einem überdimensionalen Kasperletheater zu sein. Worum, zum Teufel, geht es in dieser verdammten Ukrainekrise eigentlich wirklich? Von allen Seiten bekommen wir nur billiges Propagandagenuschle zu hören, Originalreden muss man sich mühsam im Internet zusammensuchen (was hat eigentlich Putin gestern der Merkel wirklich wörtlich gesagt?). Und je mehr wir alle, in West wie Ost verblödet und geblendet werden, desto mehr frage ich mich: Ist es das alles wert? Ist ein Land wie die Ukraine es wert, dass sich eine Welt an ihr zum Wahnsinn entzündet? Kein Land dieser Erde sollte einen Krieg wert sein - einen Frieden aber sollte jeder einzelne Mensch dieser Welt wert sein!
Irgendwie stelle ich fest: Ich habe die Faxen dicke. Ich würde am liebsten alle beteiligten Politiker nackt mit Klitschko in den Ring stecken. Da dürfen sie dann mal so richtig aufeinander losdreschen, die innere Sau rauslassen, die sie so mühsam zäumen. Aber verschont doch bitte die Völker, verschont die Bürger! Werdet euch endlich eurer Verantwortung bewusst!!! Es muss doch auch anders gehen.
Wir kleinen Bürger sollen immer aus der Vergangenheit lernen. Ich persönlich habe gelernt, was für eine Sch... es war, wie unsere Opas gegen andere Opas in den Krieg zogen und so schlimme Dinge geschehen sind, dass die Wunden heute noch nicht verheilt sind, viele Generationen danach. Ich lerne jeden Tag neu, wie schwierig, aber auch wie glücksbringend es ist, sich die Hand zu reichen, sich zu versöhnen und gemeinsam neue Wege zu finden. Um nie wieder in so einer Sch... zu waten. "Wehret den Anfängen" hat man mir als Kind beigebracht: Nie wieder Krieg!
Ich würde gern die ganze Maschine kurz auf "Stop" drehen und an Frieden erinnern. Wir sind längst über den gefährlichen Punkt hinaus, der jeweils anderen Seite Kriegstreiberei vorzuwerfen. Keiner ist mehr unschuldig in dieser Sache, keiner. Jetzt geht es um allerhöchste Achtsamkeit auch Worten gegenüber. Wann ist ein Mensch ein Terrorist und wann ein Revolutionär? Warum sind die einen das eine und die anderen nicht? Wer beantwortet all die nicht beantworteten Fragen, wer liefert echte Beweise und wer hat die wirklich friedensstiftenden Ideen?
Ich will keinen Krieg. Friedensnobelpreisträger wie Obama und die Europäische Union sollten ihn noch weniger wollen. Ich will auch keinen Krieg um verdammtes Erdgas, um Ressourcen, Zugänge und andere Vorwände, weder einen Wirtschaftskrieg noch einen Kalten. Ich bin ein Kind des Kalten Kriegs und weiß noch, wie ich gefeiert habe, als er endlich zu Ende war! Vielleicht hat mich all dieses Gezerre schon zu sehr ausgetrocknet, aber ich will wirklich nur eins: feiern. Feiern mit dem russischen Wassili, dem ukrainischen Wasil, dem amerikanischen Basil. Dass man es mit vereinten Kräften nochmal geschafft hat, Menschlichkeit, Frieden, Intelligenz, Achtsamkeit und gegenseitigen Respekt siegen zu lassen über Gier, Verblendung, Verblödung und lebensverachtenden Wahnsinn. Prost!
Ein schöner Text.
AntwortenLöschenMit dem Erinnern an; Krieg und Krieg! Zwei Ziegenböcke, auf einen Brücke des Friedens, lamentieren. Beide werden ins Wasser fallen, auch wenn die Brücke nicht brüchig wird. Kriege stehen für Politiker und Reiche da, Kriege sind nicht zum überleben, diese führen Verdiener; die Aktien ihre Vorteile bedienen werden. So einer mag, den anderen nur mahnen; alles ist …
So gebt der Boxring nichts her; alle in ein Stadion. Licht aus. Stock dunkel. Die Wahrheit bringt Licht am nächsten Tag. Licht und Wahrheit nur Gesetz dabei? Oder ! Lüge und dunkel, Recht geschunkelt?
Menschen sind alle Gleich. Ihre Wesen unvergleichbar. Im Gleichnis ist das unentschieden; der Wicht, wie an sich.
Wie ein Verständnis
Danke Born!
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