2010: The Year We Make Contact

Liebe Dorfbewohner,

ihr ertragt mich nun schon zwanzig Jahre mit Unterbrechungen. Spätestens 2001, als ich den Monolithen im Garten aufgestellt habe, dachte ich, ihr wüsstet endlich Bescheid. Aber immer noch verfolgen mich eure Blicke, die nicht wissen, wo sie diesen Alien einzuordnen haben. Diesen Alien, der im Unterschied zu all den Lehrern, Kurzarbeitern und Menschen mit regelmäßigem Feierabend einfach einen anderen Lebensrhythmus pflegt, weil er vom Planeten Freelance kommt.

Die Freundlichen unter euch triefen mir Mitleid entgegen und haben manchmal einen Blick, bei dem ich unweigerlich meinen Körper abtasten möchte, auf der Suche nach der schweren Behinderung, die man mir ansehen möchte. Aber ich habe zwei Arme und Beine wie Menschen vom Planeten Erde auch, kann also keinen Grund erkennen, weswegen man mich dauerbedauern müsste.

Über die Misstrauischen unter euch muss ich oft schmunzeln. Ich kann das Räderwerk in euren Köpfen fast sehen, wenn eure Gedanken rasen: Was macht dieser Alien nur, womit verdient der sich seinen Erdunterhalt? Ich habe in jungen Jahren schon einmal in einem weit intelligenteren Dorf gelebt, in dem die Nachbarn ganz schnell eine ihnen genehme Lösung fanden. Sie sahen mich immer nur in nicht alltäglicher Kleidung abends das Haus verlassen, wenn andere beim Abendessen saßen. Jemand erwischte mich sogar einmal auf dem Weg in die nächste große Stadt. Den braven Hausfrauen war schnell klar: Die geht heimlich anschaffen. Ob sie je am nächsten Morgen die Konzertkritiken in der Zeitung lasen, die ich nach der Veranstaltung noch pünktlich für die Schlussredaktion in die Tasten klapperte? Nein, euch Misstrauischen verrate ich nicht, was ich zur Unzeit arbeite, ihr hättet doch sonst nichts mehr, worüber ihr euch den Kopf zerbrechen könntet.

Ach, und ihr Hämischen, ihr heimlichen Fingerzeiger und Besserwisser, ich vernehme eure Hypothesen wohl und laut. Der Alien ist "gestört", "mit dem stimmt etwas nicht" und im besten Fall hat er "zu wenig Freunde", "die sich kümmern könnten". Und deshalb sitzt der Alien immer dann am Schreibtisch, wenn ihr feiert und faulenzt, wenn auf dem Kalender rote Zahlen stehen oder wieder einmal die unendlich langen Ferien in Frankreich angebrochen sind. So etwas gesteht man allenfalls Rettungsberufen und Pfarrern zu, denn die haben ja eine menschenrettende Aufgabe als Ausrede. Aber immer allein am Schreibtisch? Ich weiß, das bedroht euch. Weil eure Ehefrau auch gern einmal ein eigenes Zimmer hätte, weil euch der sonntägliche Besuch der Schwiegermutter zur Unzeit nervt, weil ihr euch auch zuweilen eingraben wolltet in völlige Stille, um endlich zu euch selbst zu kommen. Ihr habt Angst, dass ihr dann implodiert, und dass ich diejenige bin, welche die Lunte gelegt hat.

Macht euch keine Sorgen um euren Alien im Dorf. Alle Bewohner des Planeten Freelance sind so. Und wisset, wir sind viele. Nicht alle tarnen sich in Großstädten, wo sie unter Singles und Entwurzelten weniger auffallen. Nicht alle arbeiten heimlich nachts und erklären sich zu Schichtarbeitern, um von ihrer Umwelt akzeptiert zu werden - und die wenigsten suchen Erholung von euch in Künstlerdörfern. Wir sind einfach. Wir sind und arbeiten, arbeiten und leben und trennen beides nicht. Wir vom Planeten Freelance haben nämlich nicht selten einen oder mehrere Berufe, die sich leben lassen. Die man nicht abschalten mag, weil man einen Teil von sich selbst ausschalten müsste. In den hierarchischen Systemen der Erdlinge würden wir wahrscheinlich schnell eingehen, regelmäßig und gleichförmig ablaufende Tage sind tödlich für uns.

Erdlinge, wenn ihr euch abends mit der Bierflasche vor die Flimmerkiste knallt, gehen wir feiern. Während ihr platt und schlechter Laune seid, weil euch der Chef wieder niedergemacht hat, klönen wir mit Kollegen. Wenn ihr euer Auto zum zweiten Mal in der Woche wascht, fliegen wir auf der Datenautobahn zu Kreativen nach New York, Bayern oder Italien. Manchmal verlassen wir das Haus zwei Tage nicht, aus Angst, die wilden Ideen könnten davonfliegen oder sich in eurer Atmosphäre auflösen, bevor sie überlebensfähig sind. Und während ihr euch am Fließband abrackert, legen wir in irgendeiner schönen Stadt in der Sonne die Füße hoch, trinken Kaffee und genießen das Leben. Wir machen die Nacht zum Tag und das Wochenende zum Werkeltag und viele von uns haben seit Jahren keinen Urlaub mehr gehabt.

Vielleicht nehmt ihr uns 2010 endlich einmal als ganz normale Erdbewohner hin. Wir besiedeln die Erde in eurem eigenen Interesse. Wir arbeiten für euch. Wir schreiben und übersetzen und lektorieren die Texte, die ihr lest, wir schießen Fotos für euch, drehen Filme, machen euer Fernsehen und Radioprogramm. Wir planen und verfassen die Prospekte für euren Urlaub und euren Fitnessclub oder malen die Bilder, die sich euer Chef in sein Büro hängt. Manche von uns entwerfen die Etiketten eurer Bierflaschen. Wir sind viele. Und weil wir so billig sind, dass wir an eure Stundenlöhne kaum heranreichen, werden wir immer mehr. Weil wir so bequem austauschbar sind, ohne Kündigungs- und Mutterschutz und in manchen Ländern sogar ohne Rente, werden wir immer mehr. Und weil ihr immer mehr mehr mehr wollt, werden wir sowieso immer mehr.

Seht euch vor, liebe Erdlinge, liebe Kurzarbeiter und Lehrer und Angestellte - eines Tages könntet ihr Aliens werden wie wir. Stellt euch vor, wir Aliens würden euch dann misstrauisch oder abschätzig beäugen und hinter vorgehaltenen Händen tuscheln: Was macht der bloß den ganzen Tag, der schreibt doch nur?

Wir sind viele, sehr viele. Und ohne uns könntet ihr weder überleben noch das Leben nach dem Feierabend und in den Ferien genießen. Denn dafür arbeiten wir vom Planeten Freelance.

5 Kommentare:

  1. Sehr geehrte...ja, wo steht denn Ihr Name...?

    Sind Sie doch eine Amerikanerin?

    Denn wir wissen ja dass alles was mit Werbung und Prospekte aus Amerika kommt. Ja, und dann benutzen Sie immer diese englischen Wörter. Freelancer - was ist denn das? Zu meiner Zeit hieß dass noch Freiberufler und das sind anständige Menschen wie Anwälte, Steuerberater. Die haben etwas ordentliches gelernt.

    Ja, was soll mit Ihrer Jammerei?

    Nehmen Sie sich einen Beispiel an meinen Sohn. Der ist gerade Mal 28 Jahre alt, hat schon 5 Jahre Auslandserfahrung gemacht und ist jetzt Abteilungsleiter hier beim großen Unternehmen. Alles sehr solide, und eine nette Verlobte hat er auch - sie werden jetzt im Mai heiraten. Das wird schön!

    Und er fährt jeden morgen mit seinem Mercedes zur Arbeit. Und seine Verlobte sagt immer daß seine Kollegen ihn wirklich mögen. Er wird mal Geschäftsführer werden.

    Leider sind seine Stunden auch sehr lang aber so ist nun mal die heutige Zeit. Das war bei uns nach dem Krieg auch nicht viel anders - schaffen, sich sein Häuschen bauen, und Familie - da hat man was anständiges aus seinem Leben gemacht. Hoffentlich kommen auch die Enkelkinder bald!

    Wissen Sie, wenn jeder so wäre wie mein Egon - ein ordentlicher Mensch, dann hätten wir nicht diese verrückten Sachen wie Sie es beschreiben. Das war doch früher alles in Ordnung - warum müssen wir denn alles ändern? Verstehen Sie das nicht? Was will ich den mit jemandem aus Neu York - der spricht doch kein Deutsch. Hat er denn eine gute Ausbildung? Und da ist doch so viel Kriminalität - da habe ich neuelich was im Ersten gesehen - also nein, so etwas wollen wir doch in unserer schönen Heimat garnicht haben. Der Neu Yorker ist bestimmt auch Kriminell!

    Erna beim Metzger beklagt sich auch über diese Menschen! Sind doch Ausländer sagt sie - wir arbeiten hart für unser Geld und Ihr alle faulenzt nur rum und kassieren unsere Steuern. Aber ich versteh dass nicht so. Ich bin eine ordentliche Hausfrau und sorge dafür das unser Haus nicht beschmutzt wird.

    Ja, ja. Also ich denke, liebe Frau Alien (ist das ein Name?), ich kann überhaupt nicht verstehen was Sie haben! Mein Rat an Sie - lernen Sie etwas Ordentliches und Sie werden schon merken was es bedeutet, glücklich in geordneten Verhältnissen zu leben!

    Ihre
    Ließchen Müller

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  2. Sabine Kanzler4/1/10 12:33

    Hier steht ein Plädoyer für Lieschen Müller bzw. für ihre Meinung.

    Nur, weil Lieschen nicht so genau weiß, was so ein freelancender Dichter (hier: Dichterin)so den ganzen Tag macht, ist sie ja nicht grundsätzlich ein engstirniger Mensch. Ein irritierter Mensch vielleicht, ein unwissender und deswegen auch von Zeit zu Zeit etwas vorurteilsbehaftet.

    Aber der freelancende Dichter ist ja nicht grundsätzlich und immer anders. Auch er weiß nicht immer so genau, was der "ordentlich arbeitende" Nachbar so den ganzen Tag macht. Und ich weiß von manchem dieser Freelancer, dass sie auf die popeligen, sicherheitsfixierten und unkreativen Gehaltsempfänger milde lächelnd herabschauen. Weil sie die besseren Menschen sind. Meinen sie jedenfalls manchmal....natürlich nicht die Dichterin hier vor Ort.....

    Il faut tous pour faire une monde...hat so oder so ähnlich irgendein Franzose gesagt. Recht hat er!

    Sabine Kanzler

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  3. Ganz genau, Sabine. Deshalb habe ich ja den Film gewählt "The year we make contact" - ich vergesse den fast gleichlautenden, ellenlangen deutschen Titel immer...

    So ein Autorenbrief ist ja in sich eine Inszenierung, ein Schlaglicht auf einen winzigen Ausschnitt - subjektiver (?) - Realität. Ein Stück Prosafiktion, noch nicht einmal an Realia festgemacht, allenfalls an Assoziationen.

    Das ist ja mein Anliegen: dass man sich nicht beschweigt und komisch anschaut und sich jede Menge falscher Gedanken macht, sondern auch mal frech und neugierig fragt. Ich habe z.B. fantastische Nachbarn, die einmal eine Lesung von mir besucht haben und sich jetzt plötzlich wunderbar vorstellen können, warum ich danach drei Tage platt bin und Natur brauche.

    Und wenn ich weiß, dass einer abends die Füße vor die Glotze streckt, weil er den ganzen Tag im Akkord geschuftet hat, dann hat der meine Hochachtung. Aber dazu muss ich ihn auch erst mal fragen: Was arbeitest du eigentlich, dass du abends so müde bist?

    Trotzdem - ich erlebe das auch bei Behörden ständig: Über Angestelltenleben wissen die Leute eine Menge. Das kann sich jeder vorstellen, das ist normal. Freiberufler umweht immer so ein "Ruch", ein Hauch des Unbekannten, da weiß man gar nichts. Man fragt aber auch nicht.

    Vielleicht kann man sich das in Deutschland außerdem nicht vorstellen: Frank Peters und ich leben in einer Region, in der Künstler noch laut als "Ziginer" beschimpft werden, oder zumindest hinter vorgehaltener Hand. Der "Outre-Foret" (Jeseitswald / Hinterwald) ist seit Jahrhunderten eine Region, in der die Menschen den Doppelberuf Arbeiter und Bauern hatten, immer doppelt geschuftet - und die anderen sind alle abgewandert.

    Irgendwann kam der Reichtum durch Michelin und Benz und dieses Fassadenleben, das für Frankreich völlig untypisch ist: aufgeputzte riesige Häuser, riesige Autos. Die "Ziginer" müssen sich untereinander vernetzen, wenn sie nicht durchdrehen wollen. Denn du bist mit allem völlig allein auf dich gestellt und musst im Gegenteil noch die Behörden beraten.

    Da ist es natürlich auch mal befreiend, als Minderheit über die anderen zu lachen, die Straßburger greifen sich ja auch an den Kopf, wenn sie zu uns in den Norden blicken - und die Südelsässer können nicht glauben, dass man in dieser rauhen Gegend überleben kann.

    Übrigens: Lieschens Rat, etwas Ordentliches zu lernen oder "hätten Sie halt was Ordentliches gelernt" - den höre ich öfter als mir lieb ist. Seit meiner Jugend.

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  4. Übrigens bin ich keine Dichterin.
    Meine unordentlichen Berufe sind: Journalistin, Buchautorin, Übersetzerin und PR-Frau...

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  5. Dieser Artikel wird demnächst auch in der http://blogbibliothek.ch zu lesen sein!

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