Ein Nugget!

So, jetzt kann auch ich endlich eine dieser strunzdummen Schreibratgeberfloskeln absondern, wie sie im Internet so beliebt sind: Sie suchen nach dem Goldbarren unter den Themen, dem Nugget an Plotidee? Sie wollen möglichst wenig Zeit und Arbeit aufwenden? Dann suchen Sie nach einer anderen Farbe. So einfach ist das mit dem Schriftstellern. Ganz ehrlich! Ich habe das nämlich gestern am eigenen Leib erfahren.

Zuerst einmal gibt es nichts besseres für die Kreativitätsankurbelung als vorsätzliche Arbeitsverhinderung. Eigentlich habe ich weder Zeit für ein Buch, noch darf ich welche haben. 80% meiner Persönlichkeit übersetzen nämlich fleißig einen Riesenklopper von Buch und 25% entwerfen Texte fürs Europaprojekt. Richtig gerechnet: Die 5%, die an die Substanz gehen, haben die Buchautorin in die Verbannung geschickt, vorerst. Das macht diese natürlich so richtig kribbelig und verführt zu Ausbruchs- und Fluchtversuchen.

Gestern war es besonders schlimm. In den Teepausen (verdächtig bei einer eingefleischten Kaffeetrinkerin, Marke "Samowar", aufbewahrt in einer uralten Dose grusinischen Tees, extrem verdächtig) versuchte das Weib, zuerst nur geistig zu entkommen. Anstatt sich brav auf Paris in der Übersetzung zu konzentrieren, dachte sie an Petersburg. Und wie schön es wäre, wenn sich zwei Leute dort gekannt hätten, die sich aber unmöglich gekannt haben. Wunschträume, Mädchenträume, dummes Zeug. Nur weil sie beide Figuren kannte und die eine ungefähr zur Zeit der grusinischen Teedose in ihrem Horizont aufgetaucht war. Das war in der Schulzeit. Seither trinkt sie, wie gesagt, normalerweise Kaffee, am liebsten italienischen, wird diese Figur aber nie los. Diese Figur hat bereits eine eigene Farbgebung, eine Textur, einen Klang. (Wir erinnern uns: die Autorin ist Synästhesistin).

Da fällt der Autorin ein, dass auch das letzte Buch eine eigene Farbe hatte, außergewöhnlich, vielleicht aber genau deshalb, weil es auf Klang gearbeitet war. Die anderen Bücher stellen sich da wirrer dar. Nijinsky aber hat ein strahlendes, klares, hohes Himmelblau mit einem Klangteppich von Massen von hohen Vogelstimmen am frühen Morgen. Was wäre also, wenn diese andere Figur auch Klangfarben hatte? Hatte sie natürlich. Und welch Freude - die Farben dieser anderen Figur und die der Teedosenfigur passten so schön zusammen, warum sollten die sich nicht gekannt haben? Das wäre ein gigantischer Stoff! Spätestens hier kann jeder erkennen: Kaffeetrinker sollten mit der Droge Tee extrem vorsichtig umgehen.

Die Autorin tarnte sich aber zunächst, damit ihre geplante Flucht nicht auffiel. Brav und demütig setzte sie sich an ihre Übersetzungsarbeit und tat so, als könne sie nichts ablenken. Nicht sehr einfach, denn im französischen Text kam jemand vor, der jemand kannte, der jemand kannte, der mit ... ganz genau, dem Teedosentyp. Als die Autorin sich dann des Abends Kraft für den nächsten Tag hätte anerholen sollen, tat sie gar seltsame Dinge. Sie holte einen ungestrichen an der Wand hängenden Bilderrahmen herunter und malte ihn an und summte und malte im Teedosenklang (die übrigens die gleiche Farbe hat). Wenn schon alle Fachleute gesagt haben, dass sich die beiden Personen nie begegnet waren, obwohl ihre Farben so gut zueinander passten und obwohl der kleine Finger der Autorin anderer Meinung war, vielleicht könnte man die Begegnung der beiden herbeimalen und herbeisummen?

Die Autorin trank noch einen Tee und war nicht mehr bei Sinnen. Kramte in ihren Stoffvorräten, bis sie das Fluchtmittel aus der Schreibverbannung gefunden hatte. Ein wunderschöner weicher Leinenstoff im Farbklang der anderen Figur. Kurzentschlossen maß die Autorin die Länge einer Stola ab und schnitt zu... Und weil es ihr schon reichlich bunt vor Augen war und weil nun doch die Müdigkeit kam, ging sie ins Bett. Ließ sich in die herrlichen Farben und Klänge fallen, flog mit ihnen herum und träumte - und saß plötzlich senkrecht. Auf einmal hatte das neue Projekt einen eigenen Farbklang. Und der führte zu einem Wort, das sie bisher überhaupt nicht beachtet hatte, weil die Farbe bei Richard Wagner herumklingt und der nun wirklich nichts im Zusammenhang zu suchen hatte. Aber wo war sie dem Wagner schon begegnet? (Auflösung am Ende)

Wie das so ist, wenn man Stoffbahnen zum Entkommen zerschneidet und Bilderrahmen zur Tarnung bemalt, es kommt dann irgendwann dieser absolut ideale Zeitpunkt zur Kreativitätsflucht, mitten in der Nacht, wenn sogar der Wachhund schläft. Keine zehn Pferde hätten die Autorin mehr halten können, sie war sich sicher, den Schlüssel gefunden zu haben! Computer hochfahren, Schlüssel in die Suchmaschine einlegen - nichts leichter als das. Und was sie zu sehen bekam, fühlte sich gut an: Kyrillisch. Leider kann die Autorin es zwar lesen, aber nicht so doll verstehen. Aber heimliche Ausbruchshelfer waren so freundlich, manche Seiten in Übersetzungen anzubieten.

Da ist es dann passiert. Goldfund. In Petersburg, wo sonst. Und in Moskau und dann noch in New York und sonstwo auf der Welt. Der Schlüssel öffnete immer neue Türen. Und das Gefühl ist kaum zu beschreiben für Leute, die nicht mit Synästhesie gesegnet sind. Es stimmte einfach alles im Sinnenrausch. Die Teedosenfigur und die andere Person haben sich in der Tat gekannt und nicht nur gekannt. Dieses Gefühl, dass zwei solche Zeitgenossen sich nicht irgendwann gegenseitig auf den Zeh getreten sein sollen, war untrüglich. Endlich konnte die Autorin herrlich schlafen und kann sich jetzt auf die Brotarbeit konzentrieren. In der sicheren Gewissheit, dass sie einen goldenen Schlüssel gefunden hat.

Und damit das Ganze endgültig zum emotionstriefenden Märchen gerät, hat sie während des Tippens hier eine der wenigen noch vorhandenen Eintrittskarten für Valery Gergiev ergattert (online wegen des Schnees, gerade noch rechtezeitig) und wundert sich nun gar nicht mehr, wieso sie zur rechten Zeit auf den rechten Klang bei Wagner kam (s.o.) - Farbklänge vergisst man nicht, vor allem nicht solche mit Duft.

Was lernen wir daraus? Es gibt geplante Plots und es gibt welche, die man nähen-trinken-schauen-hören-malen kann. Und es gibt Autoren, die einfach nicht ordentlich arbeiten können.
Jetzt aber brav ans Übersetzen, Paris, ich komme...

Den ersten Teil des Märchens gibt es hier. Dort wird auch erklärt, ob sich Gergiev und Onkel Vladimir schon einmal begegnet sein könnten.

2 Kommentare:

  1. Uff - fast wie bei Obama. Jedesmal wenn er etwas sagte, stiegen die Erwartungen - und die Ungeduld.

    Ungeduldig neugierig auf was sich nach einem echten Breakthrough klingt.

    More please!

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  2. Sie haben mich gerade auf einen neuen Ressorttitel gebracht: Making of.
    Ist übrigens verdammt schwer, so zu schreiben, dass man wirklich nichts verrät und sich dann auch keiner aus all den "Making of" etwas zusammenreimen kann.

    Aber ich fürchte, bis das zum Buch wird, braucht's eine Präsidentschaftsperiode. Noch habe ich keine Form, noch muss ich mir eine Menge seltener schräger Bücher besorgen... und auf das Präsidentengehalt warte ich auch noch ;-)

    PS: Apropos Obama - von dem kann man eine Menge lernen...

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