Das lange Leiden

Alle wollen Schriftsteller werden. Manche legen schon Schriftsteller-Websites an, bevor sie wirklich einer sind. Bücher schreibt man so runter, weil jeder Schreiben in der Schule gelernt hat. Jetzt kann man Bücher auch noch ganz easy herstellen, ruckzuckhauruckhergeklickt - und haste nicht gesehen, schon ist das Geschreibsel ein echtes Buch. Pappedeckel und Papier, mehr braucht's heutzutage nicht, um Schriftsteller zu sein. Gut, ein paar Leser noch, aber die BILD hat ja schließlich auch genug gefunden. Und 'ne echte ISBN, weil ein echter Schriftsteller, der ist nichts ohne eine ISBN, so wie der Harzer Roller in der Tiefkühltheke auch nicht ohne Barcode kann. Verlage brauch'n wer nich, Buchhandel brauch'n wer nich, aber ohne ISBN und ohne Barcode schimmelt der Käse zweimal im Regal.

Und dann: Absahnen. Die große Knete machen. Berühmt werden. Das Konterfei säumt die Alleen in den Großstädten, Auftritte jagen sich. Händeschütteln, Bücher signieren, Starfotos schießen lassen. Easy ins Fernsehen, ruckzuckhauruckgecastet - ob die Schriftsteller-Attitude richtig sitzt? War doch gut, nicht Musiker oder Opernsänger oder Dirigent oder Ballettänzer geworden zu sein. Die sind schön doof dran: müssen nicht nur irre gut aussehen, sondern auch noch was können! So ein Schriftsteller hat's schön, der kann anders als der Kammersänger in der Kammer miefen, abgewrackt über der Tastatur hängen und Rotwein schlürfen, bis ihm die Gedanken von selbst aus dem Hirn fallen. Irgendwer kauft immer irgendwas, Hauptsache zwischen Pappedeckeln geadelt oder neuerdings auf schickem Technogerümpel.

Blasen vom Tanzen? Nada. Schriftsteller hängen die zarten Fingerchen in den Pool, während sie ein Interview nach dem anderen geben. Mit Disziplin einen Tag lang immer die gleichen Takte üben? Wer arbeitet denn heute noch am eigenen Text, wenn selbst Verlagen Schreibfehler unterlaufen! Aber wir haben alle mit fünf Jahren schon angefangen. Echte, wirklich ganz besonders echte Schriftsteller erzählen in ihren Website-Biografien seitenweise über frühkindliche Schreibprägungen und den ersten Füllhalter. Schriftsteller sind die größten. Musik und Theater kommt nur auf ARTE vor, aber sie füllen die Spalten, die Blogs und die Abgründe. Konkurrenz und Können fürchten die neuen Schriftsteller nicht, wozu sich anstrengen, Amanda Dingens hat's doch auch geschafft - und die war Altenpflegerin. Vampire sind immer gut, unsere Gesellschaft braucht Vampire dringender denn je. Kammermusik, pah, Minderheitengesülze. Dem Untergang geweiht.

Manchmal sieht so ein ruckzuckhauruckgedruckter Schriftsteller plötzlich einen Kollegen, wie er leidet. Absolut retro, aber solche Typen soll es ja noch geben. Dieser Typ also ringt um ein großes Thema, erleidet Schmerzen im Kampf mit Figuren und leidet unendlich daran, die richtige Erzählstimme zu finden, dem ersten Kapitel einen genau passenden Atem einzuhauchen. Dieser Typ hängt drei Tage an der gleichen Seite, als sei es eine Partitur, und komponiert immer wieder um und vorwärts und rückwärts und wirft dann alles weg und schreibt neu. Schön blöd, dämlich retro. Als ob's nicht für alles Leser gäbe! Wie viele Bücher könnte man aus diesen Papierkorbinhalten machen! Ruckzuckhauruckgedruckt, mit Pappedeckeln geadelt. Wie viele Genies und große Literaten gehen täglich durch die Altpapiersammlung der Welt verloren!

Und hat sich dann dieser altmodische Kollege endlich das Buch abgerungen, das Leben vergessen, Freunde vernachlässigt, die Fenster nicht geputzt, dann leidet er schon wieder! Bauchweh, Schlafstörungen, Schilddrüsenflattern, eiskalte Zehen, Drehschwindel und Zahnstein - und das alles nur aus Angst, wie schlecht das eigene Werk zwischen Pappedeckeln sein wird, wenn es gedruckt ist. Da hat man einen Fehler gefunden, den man nicht mehr korrigieren kann, und sicher ist die Schrift zu klein, der Text zu kurz, der Inhalt hanebüchen und schon achteinhalbmal dagewesen. Man hat das Beste gegeben, aber im Moment der Angst vor dem Erscheinen ist man über sich hinausgewachsen und hätte alles noch viel besser schreiben können. Man könnte mitsamt Drehschwindel und Zahnstein den Kopf gegen die nächste Wand stoßen. Es würde nichts nützen, man bliebe der weltschlechteste Schriftsteller mit dem weltidiotischsten Text, mit Schwächen von Kopf bis Fuß und vor allem im Hirn.

In solchen Momenten hasst sich der Retroschreiber, wird unleidlich oder schreibt noch ein Buch - nur um zu vergessen. Um abzuschalten. Um nur ja nicht daran zu denken, dass in dieser Zeit zwischen Herstellung und Erscheinen nichts mehr verbessert werden, nichts mehr aufgehalten werden kann. Es ist alles zu spät. Die Tage fühlen sich an wie heißer Teer, in den Nächten walzen einen die Federn platt. Plötzlich sitzt der Schriftsteller senkrecht im Bett: Die Zeit bis zum Erscheinen ist bereits mit zwei Händen zu greifen. Die Hände schmerzen. Man hört Chopin und überlegt sich, wo man denn herauskäme, wenn man sich heimlich unter den Teppich und in die Erde bis ans andere Ende der Welt davonstehlen würde. Kein Fegefeuer kann so brennen.

Da lacht ein Teufelchen. Lacht ruckzuckhauruckgescheppert. Wie blöd kann man denn sein! Wir haben doch alle Schreiben in der Schule schon gelernt, haben mit fünf Jahren einer Gans bei lebendigem Leib die Schreibfedern herausgerupft und später Liebesschmerz auf Herz gereimt. Ein Schriftsteller von heute leidet nicht mehr. Wir schreiben ratzfatz ein Buch, produzieren ruckzuckhauruck und sind schnellschnellschnell irre berühmt und noch irrer reich. Ein paar Buchstaben, Pappedeckel oder Technogerümpel - fertig ist das Prinzip Buch. Warum sich also unnötig Arbeit machen, warum unnötig leiden und dahinsiechen - in der Tierklinik haben sie dagegen doch auch eine Spritze!

Die Verfasserin dieser Zeilen kehrt schon wieder vom leeren Briefkasten zurück. Sie ist nicht mehr sie selbst. Eine falsche Berührung - und die Nerven zerreißen. Noch ein freundliches Bonjour der vorbeiknatternden Briefträgerin - und ein Krimi entsteht. Noch so ein langer Tag, noch so eine durchwälzte Nacht - und die Zähne fallen ganz von selbst aus. Chopin hilft schon lange nicht mehr. Vielleicht wäre es Zeit für jene Spritze.

Und was tut sie da auf den letzten Zentimetern des größten Marathons ihrer kleinen Welt? Sie muss vollkommen durchgedreht sein! Sie genießt es!!! Wie eine Figur von Molière lässt sie sich noch tiefer hängen, wenn jemand zuschaut. So viel Leiden, so viel Kraft - wie schön wird erst das Feiern werden! Das Ruckzuckhauruckgefühlsmittelmaß dürfen sich die Schnellen nehmen. Auch der Genuss des Leidens will hart erkämpft werden. So viele Tode sind schließlich bis zum ersten Andruck noch zu sterben...

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