Seismographen

Ein alter Branchenspruch heißt: "Du musst mit dem richtigen Manuskript zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, dann wird es ein Buch" - abgesehen natürlich von all den beeinflussbaren Größen wie Qualität, Professionalität etc. Das klingt nach Glücksspiel, ist es auch. Trotzdem kann man durchaus trainieren, ein Gespür für Themen zu bekommen, Themen, die mehr Menschen interessieren könnten als Tante Erna und den Nachbarn.

Journalisten erlernen das Themengespür recht einfach durch tägliches Üben, dem Vorgaben zunächst ein Gerüst geben. Tagesaktualitäten müssen "abgefeiert" werden, das ist Routine. Aber mit dem, was früher aus dem Ticker kam und heute aus der Mailbox, verfeinert sich ein Gespür dafür, was in einer Redaktion anfällt. Man lernt auszuwählen, schafft Kriterien. Etwa die Nähe zum Leser, den Tote in Castrop-Rauxel eher interessieren als auf Feuerland. Oder Bedeutung - der Flugzeugabsturz mit 300 Toten auf Feuerland interessiert mehr als Oma Heinrich, die in Castrop-Rauxel einfach tot im Gemüsebeet umfiel.

Wenn man die Kriterien für Lesernähe oder Aufmerksamkeit erst einmal verinnerlicht hat, ist es leichter, eigene neue Themen zu suchen, die jenseits der Tagesaktualität spannend sind. Haben wir je eine Reportage über die Selbsthilfegruppe für Krebs in der Stadt gemacht? Wie viele Einwohner werden krebskrank sein, wie viele Familien, Bekannte und Freunde mögen mitbetroffen sein? Oder ist eher der Typ, der diese neuartige Wurst aus gentechnisch verändertem Wirsing gezüchtet hat, der große Knüller? Übung macht den Meister, Leser geben Feedback, wie daneben man lag - und dann braucht es noch ein Talent, das man "Nase" nennt. "Der hat den richtigen Riecher".

Buchautoren geht es so ähnlich, sie haben zum Schnuppern nur mehr Zeit und müssen nicht so viele Themen heraushauen. Vor allem Sachbuchautoren müssen sich auf der Höhe der Zeit bewegen, müssen eine Nase dafür entwickeln, was zur Fertigstellung des sehr langsamen Produkts Buch die Menschen umtreiben könnte - und was länger interessiert als ein halbes Jahr. Zeitungen sind geduldig, am nächsten Tag wickelt man seinen Müll in den gestern noch hochaktuellen Artikel. Bücher sollten länger leben...

Wie mache ich das mit der Nase? Eigentlich so ähnlich wie als Journalistin, jedenfalls beim Sachbuch. Ich gehe neugierig durchs Leben und bin wie ein Schwamm, sauge auf. Ich lese Zeitungen quer, informiere mich, was in meinen Themenbereichen läuft, schaue auf Neuheiten. Ich höre zu. Höre zu, was Menschen umtreibt oder angeblich umtreibt, will wissen, wovor sie am meisten Angst haben und was sie träumen. Ich bin neugierig auf Visionen und Schreckgespenster, Auseinandersetzungen, künstlich hochgejubelte Themen und vergessene, übersehene Themen. Ich frage mich selbst: Was davon interessiert mich, was ödet mich an? Ich bewerte: Welchem Thema gebe ich eine Zukunft, welchen Skandal halte ich für überflüssig? Ich lerne, schaue, höre, denke nach, diskutiere...

Und dann passiert es irgendwann. Etwas springt mich an. Eine kleine Idee, vielleicht schon ein Thema, meist aber nur eine bohrende Frage. Ich wälze sie im Kopf. Etwas fasziniert mich. Dieser Prozess funktioniert absolut egozentrisch, noch denke ich im Traum nicht an Publikum oder Leser. Ich spiele mit dem neuen Gedanken sorglos herum und warte darauf, ob das passiert, was immer bei mir passieren muss, damit ein Buch entsteht: Die Idee muss mich "beißen", wie man im Französischen sagt. Wenn sie es schafft, nicht zu platzen, sondern mich fest in ihren Fängen zu halten, während ich mich natürlich heftig wehre, dann hat die Idee eine Überlebenschance.

Erst wenn ich entschieden habe: Das begeistert mich, fasziniert mich, da möchte ich dran bleiben, Energie investieren - erst dann überprüfe ich meine Idee an der Umwelt. Bringt mir ja nichts, selbstherrlich in eine Idee verliebt zu sein, die außer mich keinen interessiert. Ich teste sie aus: Ach, hast du schon gehört, dass... Kann ich mein Gegenüber innerhalb von einer Minute fesseln? Kann ich so davon erzählen, dass der mehr hören will?

Liegt die Idee in der Luft? Ist es ein Thema, das in zwei Jahren noch interessiert? Ist der Trend schon totgenudelt? Habe ich etwas wirklich Neues zu bieten? Wie unterscheide ich meine von bereits vorhandenen ähnlichen Ideen? Jetzt kommt die "Nase" zum Einsatz. Wenn schon zwei Jahre über Polkappenschmelze öffentlich diskutiert wird, hat es keinen Sinn, ein Buch darüber zu schreiben, dass die Pole abschmelzen. Ich muss da schon neue Aspekte bieten. Und stünde eine schnelle Rettung vor der Tür, könnte ich das Thema getrost ganz vergessen - bis mein Buch gedruckt ist, wären die Pole wieder gefroren. Könnte die Schmelze jedoch noch bedrohlichere Ausmaße annehmen, die uns alle spürbar treffen werden, dann ist das ein Longsellerthema. Nur sollte ich in die Zukunft denken, vorausschauen, antizipieren, extrapolieren...

Man ist im Idealfall so eine Art Seismograph dafür, was die Menschen umtreiben könnte. Und man darf durchaus neue Interessen und Betroffenheiten einfordern, darf den Menschen die faszinierende Welt neuer Ideen zeigen. Oder alte Themen von völlig neuen Blickwinkeln betrachten.

Aber dann kommt das große Problem der Erdbebenforschung auf die Autoren zu. Themen wollen verkauft werden. Diejenigen, die kaufen, sollten ebenfalls Seismographen sein und eine Nase haben. Das sind dann Zeitungsredakteure, Fernsehmacher, Lektoren (die für die Verleger einkaufen). Aber woran haben die ihre Nase ausgebildet? Wie nah sind sie noch am Publikum dran? Bekommen sie den Riechkurs bereits von einer Unternehmensberatung oder verschnupft sie das unternehmenseigene Controlling?

Meine ganz persönliche Erfahrung: Es ist gar nicht so schwer, seine eigene Nase auszubilden, wenn man halbwegs talentiert und offen ist. Aber es wird immer schwerer, anderen Menschen einen Geruch zu vermitteln - der kollektive Schnupfen geht um. Wer jahrelang mit Vanilleduft Geld verdient hat, sieht im Geruch einer frischen Möhre nur Risiko. Und plötzlich sind wieder die Medien näher am Puls der Zeit, die derzeit in der Qualitätsdebatte stehen. Fernsehnasen riechen manchmal schneller als Verlagsnasen, woher der Themenwind weht... Ob daher die große Angst vor neuen Medien in der Verlagslandschaft rührt? Bücher würden zu einem "schnelleren" Medium werden. Das Schnüffeln würde wieder wichtiger. Welcher Verlag leistet sich neugierige Schnüffler?

Im Journalismus ist die eierlegende Wollmilchsau längst geboren. Ein Journalist sollte nicht nur schreiben können, sondern auch mit dem Fotoapparat umgehen, am besten zusätzlich Video und neue Techniken beherrschen. Sachbuchautoren tun gut daran, sich ähnlich vielfältig auszubilden, nach multimedialem Texten zu schielen. Schließlich wäre es doch schade, wenn so ein guter Riecher über tropfende Nasen stolpert? Denn schon jetzt nutzt das Publikum Sachthemen über Kreuz (schönes Fachwort: Crossmedia): Das lebendig erzählte Sachbuch, die aufwendige Doku auf DVD, der tagesaktuelle Bericht, das alles ergänzt sich.

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