Sprachräume
Unlängst erreichte ich solch einen Traumzustand bei vollem Bewusstsein. Ich war in Baden-Baden in einem Lädchen für Modeschmuck, wo mir ein älteres Ehepaar auffiel, weil es sich rührend und liebevoll umeinander kümmerte. Und die Autorenkrankheit sorgt bekanntlich dafür, dass man unter Menschen Augen und Ohren aufsperrt. So bekam ich mit, wie er sie beriet und sie ihm von ihren Lieblingsfarben erzählte. Erst als die Verkäuferin die beiden zum Übersetzen an die Kollegin weiterreichte, fiel mir etwas auf: Die beiden hatten weder Deutsch noch Französisch gesprochen. Also musste es doch Polnisch gewesen sein, ich hatte ja alles verstanden? Nein, mein Gehirn hatte sich selbst überlistet: Die beiden sprachen Russisch. Das hatte ich einmal sehr rudimentär in meiner Teeniezeit gelernt, damals im äußersten Westen und Kalten Krieg fast ohne jede Hörmöglichkeit. Aber die vielen russischen Produktionen auf ARTE und 3sat in der letzten Zeit hatten irgendetwas in meinem Ohr verändert...
Dieser traumhafte Zustand, in dem ich verstehe, aber nie aussprechen könnte, was ich verstehe, ist für mich immer der Beginn des wirklichen Sprachenlernens. Übrigens ein Grund dafür, dass ich zu blöde für jeden verschulten Kurs bin, ich kann weder Konjugationen herunterbeten noch Vokabeln abgefragt werden, ich kann keine Regeln zum Subjonktiv oder belebten und unbelebten Wörtern auswendig aufsagen. Bei schulischen Anforderungen fange ich an zu stottern, und ich schäme mich immer noch, dass die Übersetzerin selbst ein so drolliges Französisch schreibt - um nicht zu sagen, schriftlich so viele Fehler macht. Ich langweile mich bei normalem Unterricht unendlich. Viel lieber mag ich diese spannenden Zwischenräume erkunden, in denen ich nicht mehr bewusst wahrnehme, in welcher Sprache sich jemand ausdrückt.
Diesen Moment erreiche ich auch beim Übersetzen, wenn ich einen bestimmten Punkt der Versenkung in den Text erreicht habe. Schriftsteller kennen das von der eigenen Sprache: Plötzlich fließt der Text, ohne dass man genau sagen könnte, woher, weil man sich selbst als kaum daran beteiligt empfindet. Wenn ich in den Text des zu übersetzenden Buchs gehe, werden Grammatik, Vokabeln und Strukturen irgendwann unsichtbar. Ich begegne dem Autor, der von Seite zu Seite nackter vor mir steht. In einer imaginären Wohnung, die er mit diesem Buch geschaffen hat, einem Wohnraum seiner selbst. Die nehme ich mit geschärften Sinnen wahr und erkunde sie immer wieder von Neuem.
Nach über 400 Seiten weiß ich, was er darin sammelt, ich kenne die Farben und Klänge, die er liebt, und weiß, worüber er auch im Leben außerhalb des Buchs lacht. Ich sehe den verstaubten Nippes in seinem Akademikerregal, finde in einer Schublade vergrabene Revoluzzerfähnchen aus der Jugend. Wenn ich mich bei ihm in den Sessel setze, der von einem eigentümlichen olivgrünen, feinen Cordsamt ist, sehe ich förmlich in der Luft, was seine Gesprächspartner über ihn denken. Er kann mir nichts mehr vormachen, nicht mehr nach über 400 Seiten.
Ich spüre sofort, wenn er seine Unsicherheit überspielt. Ich weiß, wann er mit Wissen angibt und von wem er dann gefeiert werden möchte. Manchmal möchte ich mir fast die Hände waschen, weil sein Humor ins Schmierige abgleitet. Und dann würde ich ihm am liebsten zurufen, wo er eine Chance verschenkt hat, wo er wirklich witzig hätte werden können. Ich spüre seine Tagesform, weiß genau, durch welche Textpassagen er sich gequält hat. Würde ihm bei anderen Stellen gern zurufen, warum er nicht mehr solches schreibe, das könne er brillant. Er steht nackt vor mir. Ich weiß, wann er weiß, dass es keiner merkt, wo er schwächelt. Ich bin die Übersetzerin, ich bin vielleicht die einzige, die es durchschaut. Und das fühlt sich für mich nicht immer schön an, sondern auch peinlich. Manchmal bereitet es Überdruss. Und immer wieder habe ich das Gefühl, eine Schwelle an Intimität zu überschreiten.
Ich bin dann auch diejenige, die ihm ein Handtuch reicht, um seine Blößen zu bedecken. Ich muss mir diese fremde Sprachwohnung zu eigen machen, sie anderen präsentieren. Heimlich ziehe ich ihm die Schublade ein wenig auf, fahre mit dem Staubwedel über seinen Nippes. Zum Glück sind Wörter und Vokabeln so vielseitig. Mit dem maronenbraunen Läufer in der Bibliothek hat er sich eigentlich vergriffen, war wohl ein Sonderangebot, das ihm ausgerechnet an diesem Tag entgegenfiel. Zum Glück gibt es solche Läufer im Deutschen nicht. Ich kann also auswählen, muss auswählen: Nehme ich hellblaue Seide, ein gedämpftes Kaschmirmuster oder lieber etwas Flauschiges in Bordeauxrot? Nicht, dass ich noch die Buchregale umstreichen müsste: zu viel Renovierungsarbeiten darf ein Übersetzer nicht auf eigene Kappe unternehmen.
Wir sind Zimmermädchen, Dienstpersonal in fremden Sprachräumen, in den höchst individuellen Wohnungen uns zunächst fremder Menschen. Wir müssen uns langsam eingewöhnen, bis uns alles so vertraut wird, dass wir gar nicht mehr weg wollen. Dass wir manchmal gar nicht mehr unterscheiden können, in welcher Sprache so eine Wohnung gebaut ist. Manchmal treten wir durch eine verschlossene Tür und empfinden das Umfeld spontan als behaglich und vertraut. Als wären wir schon oft in dieser Wohnung gewesen, als wüssten wir, wie die Küche hinter der nächsten Tür aussieht und welchen Bezug die Bettwäsche hat. Das sind dann die wundersamen Momente, wo Wörter und Satzstrukturen und Grammatik keine Bedeutung mehr haben. Wo man die Menschen in ihren Räumen einfach erspürt.
Das ist der Idealfall faszinierender Übersetzerarbeit. Doch allzu oft werden wir in Wohnungen geworfen, die wir privat nie freiwillig betreten würden. Manche haben einen derart schlimmen Schweinestall, dass man gar nicht weiß, wo man zuerst aufräumen soll. Manche leben in eigentümlich leeren, unbelebten Hallen, als spiegelten sie nur für Stunden ein Leben vor. Am schlimmsten sind für mich die Amtsstuben, wo sie sprachliche Rohrstöcke an der Wand reihen und hinter verschlossenen Türen Folterwerkzeuge in Paragraphenformen aufgereiht zu sein scheinen. Ich erinnere mich an die gähnende Langeweile, wenn ich bei Schulmeistern zum Kaffee gebeten werde und übersetzen muss, wie sie ein und denselben Gedanken hundertmal in der Tasse herumrühren, bis sie endlich auf den Zucker stoßen.
Dann doch lieber so einer wie "mein" Autor, der ganz gewiss seinen Schnurrbart zwirbelt, aber jede Menge spannenden Besuch hat. Wenn er den zu Wort kommen lässt, tun sich neue Privaträume auf: Museen aus alten Zeiten von Umstandskrämern und durchgeknallten Genies, von berühmten Langweilern und unbekannten Geistesperlen.
Als ganz kleines Kind soll ich einmal von zu Hause ausgerissen sein, aus Langeweile. Meine Eltern fanden mich schließlich bei der kanadischen Nachbarsfamilie, die kein Wort Deutsch konnte. Ich sehe deren Wohnung mit den barbiepuppenrosa Klängen noch heute vor mir. Und finde es höchst praktisch, wenn man aus der neugierigen Ausreißerei in fremde Lebensräume einen Beruf machen kann.
Das habe ich so gern gelesen, dass es mich ganz sanft von meinen eigenen Traumwelten der mecklenburgischen Seenplatte in die Sprachräume meines aktuellen #wip getragen hat. Vielen Dank dafür! Besser kann ein verschlafener Feiertag fast nicht beginnen.
AntwortenLöschenWas soll ich da erst sagen?
AntwortenLöschenPetra van Cronenburgs Sprachräume und meine befinden sich zwar auf dem selben Planeten - aber da liegen Welten dazwischen.
Heinrich steht schon wieder auf seinem Hocker und applaudiert.
@simona
AntwortenLöschenSo weit ist es mit den Sprachen bei mir doch nicht her, ich darf gar nicht verraten, was ich angestrengt nach #wip gegoogelt habe! Vom Frauengefängnisfilm-Genre über verheiratete, nichtadlige Wiber alles dabei... Bei Twitter ging es irgendwie ums Schreiben... Da fiel dann der Groschen... ;-)
@Heinrich
Ich habe mir natürlich auch den schrägsten Planetenplatz zum Leben ausgesucht, wo wir ständig dreisprachig sind: Elsässisch, Französisch und Deutsch. Genial daran ist, dass die Sprachwechsel innerhalb eines einzigen Satzes stattfinden dürfen. Aber so sehr dieses "Europlais" trainiert - bei manchen deutschsprachigen Sprechern wären mir Untertitel angenehm. ;-)
Schöne Grüße,
Petra