Viele Leben

Eigentlich könnte ich zufrieden meine Hände in den Schoß legen und mich freuen. Mein Text über Nijinsky, wohlweislich als "Annäherung" konzipiert, ist längst fertig und ist auch schon von einem Spezialisten und Kritiker gelesen, der nur zwei Rechtschreibfehler in Eigennamen auszusetzen fand. Dass der Text jetzt noch "abhängt", müsste mich nicht stören. Und auch wenn ich mich weiterhin für Nijinsky interessiere - da ist genug andere Arbeit auf 24 Stunden zu verteilen.

Stattdessen lässt es mich nicht los. Ich könnte ja in letzter Sekunde noch etwas Aufregendes finden. Oder herausfinden, dass ich mich total geirrt habe. Das Urteil des Kritikers sollte mich beruhigen. Aber es ist wie ein Zwang. Und so entdeckte ich kürzlich die damals nicht erhältliche Autobiografie von Nijinskys Schwester in irgendeiner englischen Buchhandlung online. Plötzlich erscheinen Diaghilews autobiografische Notizen, die man irgendwie erst posthum und spät entdeckt hat, in deutscher Übersetzung. Anstatt mich abends bei feiner Bettlektüre zu entspannen, lese ich fieberhaft den Riesenklops (um die 600 oder 700 Seiten) von Bronja Nijinska, mit Bleistift. Und hole demnächst Diaghilews Texte.

Habe ich mich grundlegend geirrt? Gibt es neue Erkenntnisse?
Ja, ich habe einen Fehler entdeckt, den keiner bemerken würde, weil er selbst in Zeitungsartikeln unrecherchiert wiederholt wird - und weil es wahrscheinlich außer ein paar Freaks niemanden interessiert. Nijinsky hatte als Kind einen beinahe tödlichen Unfall, lag fünf Tage im Koma. Passiert war es durch das, was man früher "einen dummen Jungenstreich" nannte, durch eine lebensgefährliche Mutprobe, bei der seine Konkurrenten sich rächen wollten. Nun gibt es eine Biografie Nijinskys, geschrieben von "seinem Freund", die ich, wie viele andere, zu Rate zog. Der Bösewicht wird namentlich genannt, der Unfall als krimineller Anschlag gewertet und der kleine Nijinsky, der trotz allem niemanden verpfeift, als schweigsam hingestellt, als unterdrücktes Kind, als einer, der sich im Sozialverhalten nicht so sehr zu bewegen weiß wie auf der Bühne. Außerdem sei seine Hüfte gebrochen gewesen, er habe trotz allem wieder tanzen können.

Kaum der Rede wert, wenn nicht daraus Psychiater Argumente geschöpft hätten, die "Schizophrenie" (die meiner Meinung nach etwas anderes war) sei damals schon sichtbar gewesen, womöglich einer Kopfverletzung (!) geschuldet. Akribisch rekonstruiert selbst ein Psychiater in einer ansonsten brillanten Biografie aus den Ereignissen die Qualen eines Kindes, das nicht akzeptiert wird von seinen Mitschülern. War das Nijinsky? Und muss man seinem "besten Freund" nicht glauben? Wo kann ein Autor noch nähere Quellen finden?

Nur liest sich die ganze Sache in den Erinnerungen der kleinen Schwester ganz anders - wobei zwischen Erleben und Aufschreiben sehr viel Zeit verging. Bronja berichtet nämlich von drei Kumpels, die Nijinsky in die Pfanne hauen wollten - und siehe da, der "beste Freund" ist einer von ihnen! An ihm lässt sie nicht viel gute Haare, er habe sich nachträglich zum Freund stilisiert, damit etwas Ruhm auf ihn fiele. Mit dem "Täter" und einem dritten hat er gemeinsame Sache gemacht. Schlimmer noch, die drei Rabauken waren Nijinskys "Clique", wegen der er langsam Schulschwierigkeiten bekam. Sein Betragen ließ zu wünschen übrig. Hat er sich beweisen müssen als Junge, wie es einige homophobe Autoren nachher gern gesehen hätten? Bronja erzählt, wie er unter der Trennung von Vater und Bruder litt. Wie er einfach seinen Schmerz herausgekämpft hat. Scheidungskinder werden manchmal schlechter in der Schule, Jungen wie Mädchen. Und er war nicht braver als die anderen.

Da ist nichts spürbar von einem "gestörten" Jungen, von "fehlgeleiteten" Emotionen, psychischen Problemen. Dieser Junge ist so normal wie jeder andere auch in seinem Alter. Und er hat weder eine Kopf- noch eine Hüftverletzung - laut Bronja erhielt er einen beinahe tödlichen Magenschlag und muss lange eine besondere Diät einnehmen. Als er später Vegetarier wird und Fleisch vor Ballettübungen im Magen nicht erträgt, erklärt ihn seine Frau für verrückt, die Ärzte wollen darin ernsthafte Anzeichen für die Schizophrenie sehen und nachfolgende Autoren schlagen in die gleiche Kerbe. Keiner denkt darüber nach, dass neben geistigen Überlegungen, die bei ihm von Tolstoi inspiriert sind, tatsächlich körperliche Probleme eine Rolle spielen konnten. Und jener "beste Freund"? Nijinsky bricht kurz darauf völlig mit seiner Clique. Nicht verschreckt und stumm, sondern mutig.

Welcher Nijinsky ist nun DER Nijinsky? Eine Schwester müsste es doch besser wissen als ein Kumpel, der sich einschleimen will in den Abglanz des späteren Weltstars? Soll man all ihre Versionen übernehmen? Sie ist doch am nächsten an ihm dran?

Nein, denn sie ist "nur" seine Schwester. In der Schulzeit wachsen sie durch die militärische Ordnung der Ballettschule fast getrennt auf, Mädchen und Jungen ist jeder Wortwechsel strengstens untersagt im Internat, selbst beim Pas de Deux. Sie sehen sich kaum noch. Und als Schwester ist sie verstrickt in die Familienprobleme, hat ihre eigene Sicht. Kann sie in den Bruder wirklich hineinschauen? Auf wessen Seite steht sie? Welche Intention verfolgt sie beim Erzählen von "Tatsachen"?

Es fällt auf, dass Bronja Nijinska eine Menge erzählt, aber gewissen Themen völlig auslässt. Fast nebenbei erfahren wir, dass der ältere Bruder nach einem Fenstersturz aus dem dritten Stock Probleme hat. Er ist brav, umgänglich und macht mit den Geschwistern Hausmusik, ist überhaupt musikalisch sehr begabt, schafft aber seit dem Sturz die Schule nicht mehr. Dann gerät er durch unglückliche Umstände ein Jahr lang in die Hände von Fremden, wird gehalten wie ein Tier, geschlagen, gequält. Danach ist er scheinbar nicht mehr derselbe. Bronja deutet an, dass er Wutausbrüche hat und in ein "Sanatorium" muss, weil es gefährlich sei, mit ihm zu leben. Das "Sanatorium" ist eine Irrenanstalt. Nijinsky liebt den Bruder innig, vermeidet aber allzu viele Besuche. Mutter und Schwester sind einmal die Woche dort. Mehr erfahren wir nicht. Der Bruder ist ausgelöscht, kommt nicht mehr vor. Genauso wie der Vater nur durch die Brille eines kleinen Mädchens erscheint, das an seine Liebe glauben will. Dieser Vater hatte den Bruder in die Hände der Fremden gegeben.

Wer also ist das Kind Nijinsky, würde man die persönlichen Betroffenheiten Bronjas abziehen? Was bleibt, wenn man untersucht, wo sie schönt, wo sie ihre eigenen Wirklichkeiten schöpft, um selbst zu überleben? Wann verdrängt sie? Was weiß sie wirklich? Warum betont sie jenen ersten romantischen Kuss zwischen Nijinsky und einem sich fast aufdrängenden Nachbarsmädchen so intensiv, sieht aber nicht, dass Nijinsky immer und immer wieder Männerfreundschaften sucht, von zu Hause ausreißt zu den Zigeunern, den Kosaken, wo er aufzublühen scheint, sein Temperament ausleben kann.

An Nijinskys Lebenspartner Diaghilew werden sich dann endgültig alle Geister scheiden. Da reichen die Urteile vom bösen Vergewaltiger bis zur kunstbesessenen Vaterfigur, mal wird er weggeschwiegen, mal als Ausrutscher des später verheirateten Nijinsky gedeutet. Nicht nur in den noch prüden Zeiten der Avantgarde, die nicht umsonst neue Geschlechter- und Liebesentwürfe gegen den Mief der Bourgeoisie geprobt hat. Auch in recht neuen Untersuchungen. Bisexualität, Homosexualität, das sind auch heute noch Peinlichkeiten für manche Autoren, wenn sie sich nicht darum herumlügen können. Und die muss man dann wieder gegen den Strich bürsten: Was verdrängen sie, was verschweigen sie? Schreiben sie eher über eigene Ängste als über die Realität? Solche Bücher strotzen vor Ideologie, manchmal fanatischer Ideologie, aber die von schwulen Autoren manchmal genauso. Nijinsky und Frauen, auch noch? Undenkbar.

Ich werde morgen wohl Diaghilews eigene Worte abholen können. So lange hat sie keiner lesen wollen, dass sie erst im Oktober erschienen. Was wird er über seine große Liebe erzählen? Wie wird er die anderen Beteiligten sehen? Was für ein Nijinsky erwächst aus seinen Worten? Schon aus Bronjas Erzählungen wird deutlich: Diaghilew war nicht das Monster, das manche aus ihm machen wollen, nur weil sie Nijinsky lieber "ordentlich" gesehen hätten. Diaghilew war eine schillernde, faszinierende Persönlichkeit. Wie sah er sich selbst?

Annäherungen. Ein Mensch, selbst wenn er heute noch lebte, bleibt als Persönlichkeit immer im Fluss. Wir sehen in den Berichten anderer immer nur Facetten. Und selbst wenn wir jemanden persönlich interviewen können: das bleibt eine Momentaufnahme, bestimmt von Fragestellungen, von Umständen, von der Intention des Interviewenden und Interviewten. Was wir über einen Menschen lesen, ist nicht der Mensch. Es ist ein Bild von vielen, ein Bild, das sich der Autor macht. Und darum verrät so eine Biografie oft mehr über den Autor als über das Subjekt. Der Autor schreibt seine eigene Zeit hinein, sich selbst, seine Ängste, Illusionen, Wünsche und Erwartungen.

Es ist ein Werk im Fluss, das nie fertig sein kann. Irgendwann muss man einen Schlussstrich setzen und mit der erreichten Momentaufnahme leben lernen. Aber auf dem Weg dahin darf man immer wieder kritisch hinterfragen, forschen, nachdenken... Und dann passiert manchmal etwas, das erklären könnte, warum solche Themen einen nicht mehr loslassen: Man beginnt, sich selbst in Frage zu stellen.

(PS an Medienleute: nicht abschreiben, beauftragen Sie mich! Urheberrecht, gelle...)

2 Kommentare:

  1. Research and passion are never ending.

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  2. Feiner Spruch, jetzt weiß ich, warum das bei manchen Leuten in frühem Alter plötzlich beides zusammen wegkippt. ;-)

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