Thementod

Ich habe einmal in einer Autorengruppe für emotionalen Aufruhr gesorgt, weil ich wissen wollte, wie das so mit dem Musenkuss sei. Ich würde ja so manchem dauergeküssten Kollegen gern die Muse ausspannen, was aber macht man, wenn da ein richtiger Unsympath von Muserich plötzlich ans Fenster klopft? Und könnte man nicht für die verkannten Genies, die jahraus, jahrein deprimiert warten, weil sie keiner küssen will - könnte man für die nicht eine Art Singleclub einrichten? "Seit seiner Kindheit vom Schriftstellerberuf träumender, gestandener unveröffentlichter Autor, frische 55 Jahre alt, zehnbändiges Tagebuch und zwanzig Romananfänge in der Schublade, sucht Bestsellermüschen für den ersten Zungenkuss." Muse, ach Muse...

Ich sage allen Ungeküssten eins: Musenküsse sind auch nicht besser als Hundeküsse. Ich muss zwar immer quietschen und lachen, wenn ich mit letzterem geweckt werde, wische mir aber anschließend doch übers Gesicht. Und manchmal, wenn ich eine Muse heransprinten sehe, schreie ich wie Lucy (war's Lucy?) im Angesicht von Snoopy: "Iiiih, giftiger Hundekuss, schnell heißes Wasser und Jod!"

Gestern bekam ich wieder so einen überflüssigen Schlabberschmatz - leider nicht vom Hund. Ich sichtete meine beim Buchhändler erstandene Wundertüte, in der unter anderem das unten beschriebene Wunderwerk über Kandinsky lag (traumhaft!!!) - und so einiges andere, passend zu meinen schlimmsten Kulturgelüsten. Ich lese dann mal so alles ein wenig an. Und plötzlich war da ein Bild (historisch belegt): Drei Frauen beweinen einen Toten, sein letzter Geliebter stürzt sich verzweifelt ins Grab. Das war ganz großes Kino, zumal es in Venedig auf der Todesinsel stattfand.

Und dann sprachen alle Bücher plötzlich aufgeregt miteinander. Hart am Pathos, aber ganz große Kunst- und Kulturgeschichte. Eine Figur, die in ihrer Zerrissenheit förmlich danach schrie, Hauptfigur zu werden. Eine Figur, deren Abgründe und Eigenheiten mir ebenso vertraut schienen wie meine eigenen. Die Schauplätze - Hollywood kann das auch nicht besser. Klamotte, Bühnenausstattungen, alles vom Feinsten. Die drei Weinenden am Grab drehten sich plötzlich um, hatten ein eigentümliches Lächeln auf den Lippen und erinnerten mich an meine Vorabiturarbeit: Hattest du nicht schon einmal ein Jahr für dieses Ambiente "gelebt" und geschrieben?

Es war der Stoff, aus dem die Träume eines Schriftstellers sind. Eigentlich viel zu groß, mir aber eben seit meinem achtzehnten Lebensjahr vertraut. Die drei Frauen kamen immer näher, lachten jetzt. "Wir sind deine Musen!", sagten sie und gaben mir gleichzeitig einen laut quietschenden Kuss. Ich schwebte im siebten Himmel. Ich war elektrisiert. Plötzlich fügte sich alles wie ein Mosaik zusammen. Innere Bilder überschwemmten mich, ich hatte die stärkste Anfangsszene, die ich mir vorstellen konnte, schon zuckte der Bleistift in meiner Hand. Und wie das Künstler angeblich so machen, entwarf ich fieberhaft die ersten Ideen auf einer Serviette.

Und dann störte mich mein Hund, weil er nach draußen musste. Minus acht Grad können einen verdammt schnell zur Besinnung in blauer Liebesglut bringen (ja, die meine war "benoisblau", nicht kandinskyblau, großer Unterschied!). Als ich wieder drinnen im Warmen war, blickte ich meine Buchschätze an und die Frauen standen wieder am Grab und drinnen lag diesmal kein Mensch, sondern mein Thema. Es kommt halt nicht so gut, wenn man ein Buch schreiben will, dass drei andere schon längst brillant geschrieben haben. Drum, wenn die Muse oder der Muserich kommen: Trau, schau, wem!

4 Kommentare:

  1. I don't agree - es kann ein Weckruf sein, es anders zu machen, aber nicht fallen zu lassen. Jeder sieht anders, und nicht jeder Kuss ist der gleiche.

    Trust yourself, not anybody else.

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  2. Ich würde zu gern einen Indianertanz tanzen und sagen: Der Mann hat recht.
    Aber neben meinen Visionen bin ich, was das Verlagsgeschäft betrifft, abgebrühter Desillusionist. Wenn eine Noname (!)Frau(!) auf Deutsch dieses Buch schreiben würde, würde im Zweifelsfall immer das amerikanische vom großen Fachmann eingekauft, auch wenn's nicht so doll ist und das doppelte an Kosten verursacht. Aber der Verlag kauft damit alle Blurbs und US-Rezensionen mit ein. Und die Medien fliegen auf so was. Teufelskreis.

    Wenn Sie wüssten, was schon alles in meiner Schublade verrottet ist, weil die Themen nur als Lizenz gewagt werden. Deshalb bin ich ja Übersetzerin geworden ;-)

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  3. Hmm, schade dass das System zur Desillusion fuehrt - jeder war mal ein "Noname" irgendwann. Ich kenne zwar das Verlagsgeschaeft nicht, aber es geht wo-anders auch heftig zu, davon kann ich ein Lied singen. Aber desillusionieren?

    Trust yourself, not anybody else. Es gibt da auch einen guten Film den ich empfehlen kann. Menschen und Ideen. You know where.

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  4. Her mit dem Filmtipp! ;-)
    Und ich gestehe Schröckliches: Ich habe einfach "Ich schreibe ein Buch" gespielt und die ersten vier Seiten geschrieben (mich vor der Arbeit gedrückt, könnte man auch sagen).

    Jetzt lasse ich das mal abhängen und dann schaue ich mir an, ob es sich trägt. Schlimmer noch als Buchmarktmoden ist nämlich die Schere des Autors, man bekommt ein Gefühl dafür, was nur heiße Luft ist. Oder dafür, ob man mit den Figuren wirklich mindestens ein Lebensjahr verbringen möchte, schließlich machen sich die Kerls manchmal ganz schön in der Wohnung breit...

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