Killerapplikation
Vor lauter von Bürgermeistern selbstherrlich verordnetem Schmuck in "jedem Haus" und üppiger Nachtbefeuerung mit billigem französischen Atomstrom mag es umweihnachteten Touristen entgehen, dass das Elsass eigentlich ein multireligiöses Land ist, in dem noch echte Juden und echte Muslime und echte Was-weiß-ich-noch-alles-oder-gar-nichts fröhlich auf der Straße herumlaufen. Ja, manche Nichtchristen stehen gesellschaftlich derart unter Druck, dass sie heimlich schon im Oktober Christstollen kaufen und bei Sprachtrainern das Wort "Bredlebacke" üben, um ja nicht aufzufallen. Wer nämlich nicht mitmacht, wird gelyncht. Anders fühlt sich das blöde Gefrage seit zwanzig Jahren nämlich nicht an.
Und nun wird Weihnachten im Wiwawunderland zur echten Killerapplikation. In den Supermärkten, wenn man nicht gerade in der Mittagspause einkauft, kann man die Endzeitstimmung regelrecht spüren. Noch ist es nicht auszumachen, ob es in diesem Monat nur einen Krieg geben wird oder ob die Weihnachtsmänner ein Terrornetz bilden, um die Welt gnadenlos in Kunstschnee zu ersticken. Jedenfalls wird gehamstert bis zum Erbrechen. Und dass die Ware schon am 23.12. abläuft, ist auch egal, da ist ja noch offen zum letzten Panikkauf. Krise ist erst mal abgeschaltet, die Summen an den Kassen schlagen sogar die Dollarzeichen in den Augen eines Dagobert Duck k.o.
Noch einen Killereffekt birgt das Essen. Die sogenannten "Lebensmittel". Viel Leben ist in ihnen nicht mehr zu spüren, spätestens mit diesem Weihnachten hat die Grande Nation ihren Ruf als Gourmetland endgültig verspielt. Die Mikrowellenmamies hauen sich um eingeschweißten, mit künstlichen Aromen gewürzten fertigen Bredleteig, für den man leider noch einen echten Backofen braucht. Dann ein Griff zu den fertig in Aspik angerichteten Vorspeisen, für die man nicht einmal mehr Geschirr einsauen muss, das Plastikschüsselchen ist bei 4.95 pro Portion gleich dabei. Und irre, man kann heute schon kaufen, was man am 25.12. auf den Tisch stellt! Convenience. Was man letztes Jahr noch selbst machen musste, kommt frei Fabrik ins Haus, abgepackt und bis Ostern haltbar. Wer auf sich hält, geht lieber an den teureren Traiteursstand, wo die Verkäuferin frech die Packungen von der gleichen Fertigware abreißt. Frisches kaufen? Frisches kochen? Selbst würzen? Fast unmöglich, wenn man nicht in der Großstadt oder neben einer Markthalle lebt oder in Deutschland beim Bauern einkauft.
Jingle bells und Weihnachtsüße werden aus den Lautsprechern gerülpst, ich werde angerempelt, in die Hacken getreten, begegne leeren Blicken, genervten Blicken, bösen Blicken aggressiven Blicken. Und als ich vor mich hingrinse und ein wenig vor mich hin pfeife, gelingt es mir in letzter Sekunde, einem Gesicht auszuweichen, dem ich nicht mal tagsüber unterm Tannenbaum begegnen wollte. Welch ein Hass! Die Killerapplikation setzt sich durch, der feine Weihnachtsterror der vergangenen Jahre hat sein Werk getan und endlich wird spürbar, dass Weihnachten im Elsass nicht weit entfernt ist von einem kollektiven Amoklauf. Oh du fröhliche. Lasset uns in dieser heiligen Nacht hienieden von dannen gehen. Oder so ähnlich.
Und dann empfängt mich die Bäckerin mit allvorweihnachtlichem Wehklagen. Nichts sei mehr so wie es war, die Menschen böse, genervt, aggressiv, egozentrisch, rücksichtslos (ich habe mir nicht alle Bezeichnungen merken können). Nur noch Geld Geld Geld und Konsum Konsum Konsum und jeder wolle was von einem und man dürfe nichts vom anderen wollen und wo ist die Wärme und Liebe und alles weg. Nur noch Plastik, künstliche Aromen, künstliches Lächeln und wären die Tage doch hoffentlich jetzt schon herum! Und ob ich denn schon alles eingekauft und vorbereitet hätte?
Fast, sage ich mit einem Lächeln, in der nächsten Woche bunkere ich Vorräte, damit ich die Endgestressten, die Einkaufenden kurz vor dem Exitus, nicht mehr ertragen müsse - und dann hole ich nur noch frisches. Wie ich so entspannt ins Fest gehen könne, das sei ja kaum möglich. Ich lächle noch mehr und erzähle ihr, dass Weihnachten für mich die ruhigste Zeit im Jahr sei. Denn dann packe ich meinen Rucksack mit leckeren Sächelchen, heißem Tee und feinem Hundefutter - und gehe mit Hund auf Bergwanderung. Es gibt nichts Schöneres, als Weihnachten im Wald zu sein, weit weg von oben auf die hektischen kleinen Ameisen zu schauen, die Streitereien unterm Weihnachtsbaum nicht zu hören.
Der Bergwald ist dann einsam wie nie, zutraulich kommt das Wild heraus - und man kann sich vorstellen, wie schön die Welt ohne den Menschen sein kann. Friedlich, still. Nie vergesse ich den Duft von Schlüsselblumentee im Frost, blumig, intensiv und sich weit verbreitend. Und das Glück meines Hundes, der Spaß hat, endlich mehrere Stunden am Stück laufen zu können. So einen Bergmenschen hätte er gern das ganze Jahr. Und wenn wir dann ausgeruht und glücklich heimfahren, begegnen sie uns immer öfter. Die Rettungsdienste, die Gendarmerie, die in diesen Tagen so oft wie sonst nie ausrücken müssen, weil die Killerapplikation Weihnachten manchmal fast oder wirklich tödlich wirkt.
Wie machen Sie das?, fragt mich die Bäckerin. Ich mache einfach, sage ich. Aber das ist doch das Fest der Liebe, das kann man doch nicht ausfallen lassen!, sagt sie. Ich kann das ganze Jahr lieben, sage ich, auch ohne Fest.
http://www.badische-zeitung.de/breisach/weihnachtsflair-wie-zu-zeiten-vaubans--24034103.html
AntwortenLöschenWas soll man dazu noch sagen, ausser dass es in England noch kommerzieller ist als hier. Am 26.12 faengt dann schon der Winterschlussverkauf dort an.
Mais, c'est la vie - man kann sich auch auch anders amuesieren.
http://www.welt.de/die-welt/reise/article5506682/Heimat-des-Christbaums.html
AntwortenLöschenLiebe Leute. Wir leben in FRANKREICH and das Alsace ist eine REGION bestehend aus 2 DEPARTEMENTS (67 & 68) und NICHT MEHR im grossen deutschen Lebensraum.
Daher heisst Schlettstadt bitte bitte bitte Sélestat, genau wie es nicht mehr Weissenburg gibt, sondern Wissembourg.
Willkommen im Club der Weihnachtsverweigerer! Obwohl: Solange meine Mutter noch lebt - und das mögen noch viele Jahre sein - reise ich zum Fest als Weihnachtsnomade 750 Kilometer durchs Land. Belohnt werde ich für diese Strapaze mit einem garantiert conveniencefreien schlesischen Festessen. Denn eins sei euch Elsässern noch gesagt: Den richtig großen Weihnachts-Familien-Festtagsschmaus habt Ihr genausowenig erfunden wie die Räuchermännchen, Weihnachtspyramide und Schwippbogen. Das alles stammt aus dem schlesisch-erzgebirgischen Raum, den heute eine Grenze trennt. Diese echten Traditionen haben überlebt, auch wenn Breslau und Waldenburg heute Wroclaw und Wałbrzych heisst, was ich mir nie merken kann, sondern jedes Mal googlen muss.
AntwortenLöschenIch hab in den Nachrichten gehört, dass die Routiers überlegen, ob sie noch mal kurz vor Weihnachten streiken und so ein paar Versorgungscentren lahm legen wollen. Vielleicht rührt daher die Sorge, man könnte über die Feiertage verhungern und die derzeitige Einkaufswelle ist vielleicht doch nicht das ultimative Anzeichen für den kulinarischen Untergang der grande nation.....? Frage ich mal ganz hoffnungsvoll?!
AntwortenLöschenWollen wir ein Schwarzbuch Elsass schreiben? ;-)
AntwortenLöschenIch musste ja so schmunzeln, was "Die Welt" als "ursprünglich" empfiehlt... Und sag nicht, an welchen Stellen ich besonders laut gelacht habe, sonst werde ich verklagt.
Beschwerden würde ich allerdings an Atout France richten, denn wie der letzte Satz beweist, handelt es sich mal wieder nicht um unabhängigen Qualitätsjournalismus, sondern um einen womöglich in Auftrag gegebenen versteckten PR-Artikel. Französische Grenzregion nennen Sie es schon... aber nun ja, das sind die gleichen Zeitungen, die von in Polen lebenden Journalisten Schlesierartikel verlangen... Pech halt, wenn man dann mit der Landkarte vor Ort nach Schildern sucht. Meisenthal mit den schönen "elsässischen" Weihnachtskugeln, die man übrigens auch in Paris kaufen kann, liegt ja nun auch leider in der Lorraine, oder wie Die Welt sagen würde, in Lothringen.
Ich empfehle mal ganz frech, solche Empfehlungen von solchen großen Zeitungen weiträumig zu umfahren, wenn man nicht Urlaub in Tourististan machen will.
Mein Geheimtipp: Meisenthal (57, Lorraine, Grenze zum Saarland) selbst besuchen, nicht nur in der Weihnachtszeit! Dort gibt's nämlich KUNST im Centre International d'Art Verrier, das mit der Hochschule der Bildenden Künste Saar zusammen arbeitet:
http://www.ciav-meisenthal.fr/ und noch mehr Kunst, nämlich Musik, Theater etc. in der Halle Verriere:
http://www.halle-verriere.com/
Übrigens eins DER Entwicklungsprojekte, wo ein völlig heruntergekommenes Dorf mit extrem hoher Arbeitslosigkeit und Abwanderung durch Kunst und Kultur und die Rückbesinnung aufs alte Handwerk (Glasbläserei) eine wahrhafte Wiedergeburt erlebt hat!
Geheimgeheimgheimtipp: Julie Gonce im winzigen Dörflein Preuschdorf im Bas-Rhin ist eine junge Glaskünstlerin und Glasbläserin. Kein offenes Atleier, aber man kann sie bei vielen Veranstaltungen mit ihrer Kunst erleben, z.b. bei den offenen Ateliers:
http://www.ateliersouverts.net/
Madame muss wieder schleunigst ans Übersetzen eilen...heilige disciplina ;-)
Toll, Herr Brömmelhaus, dann können Sie mir jetzt bestimmt verraten, wo ich richtig guten Mohn herkriege, auch unterm Jahr - und zwar nicht das trockene blaue Zeug, das nach nichts schmeckt und nur auf Brötchen gestreut wird. Danach suche ich mich, seit ich in Polen lebte, schon Jahre krumm! (Beim Türken habe ich immerhin bereits vermahlenen gefunden, aber in Öl).
AntwortenLöschenSabine, deinen Optimismus möcht ich haben. Vor Streiks haben doch nur die Touristen und Zeitungsmacher Angst. ;-) Wenn du wüsstest, wohin die Elsässer inzwischen zum Essengehen fliehen...
Kleine amüsierte Feststellung: Keiner der hier Anwesenden ist Elsässer, zwei davon Immigrés, ganz was Schreckliches...
AntwortenLöschenNicht Elsässer, aber (in der gesamtehelichen Konstellation) zu einem Viertel französisch mit einem Akzent auf zweijährigem Studium in Strasbourg des habfranzösischen Teils dieser Konstellation..... Das ist doch immerhin was!
AntwortenLöschenMeine Mutter sagt auf Nachfrage: In Bioläden gäbe es noch ganz guten Mohn. Sie kaufe immer den von Davert, 100 % bio, ausgedroschen und geschüttelt - was auch immer das heissen mag.
AntwortenLöschenWissembourg ist ungewoehnlich ruhig heute gewesen - oder ich habe vor lauter packen nichts gesehen.
AntwortenLöschenEine Bekannte die hier ein Geschaeft fuehrt beklagte sich, dass es weniger gut liefe.
Tant pis eh?
@Matthias Brömmelhaus
AntwortenLöschenHerzlichen Dank für die Auskunft - da werde ich mich mal gleich auf die Suche machen.
Übrigens hoffe ich, dass es kein Missverständnis gab, mir fiel das erst hinterher auf - ich hatte bei meinem Kommantar den Ihren noch nicht auf dem Bildschirm. Deshalb: die "schlesischen Artikel" beziehen sich überhaupt nicht auf ihren Beitrag, sondern auf die Kommentare zum Blogartikel "Menschenschätze". Dass Sie dann mit dem Landstrich auftauchten, war Zufall.
Übrigens habe ich nachgeschaut, das erste Weihnachtsfeiern dürften wahrscheinlich die alten Römer für sich beanspruchen, 336 n. Chr. Die Speisefolge ist leider nicht überliefert...
http://belgiantrips.blogspot.com/2009/12/christmas-markets-4.html
AntwortenLöschenSorry, kommen alle in meine Feeds rein.
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