Ausnahmezustand
Ich habe aus Neugier etwas gemacht, was ich - außer bei Harry Potter (mehr als vier Bände schaffte ich nicht) nie tue. Ich habe ein Buch für Jugendliche gelesen: "Das Projekt" von Alice Gabathuler. Ich wollte ausprobieren, ob man als Erwachsener noch Jugendbücher lesen kann - und wie sich diese Jugend von heute für eine irgendwann Halbjahrhundrige liest. Natürlich spreche ich als Erwachsene nicht auf die gleichen Dinge an. Da mag die Geschichte zuerst fast ein wenig fad und "normal" klingen.
Sie spielt in einem Internat, in dem die Welt der Superreichen mit wenigen normalbürgerlichen Externen zusammenprallt, obwohl alles versucht wird, die sozialen Unterschiede vor den Schulmauern zu lassen. Und wie das auch schon in meiner Schulzeit war, bilden sich Cliquen, sind sich manche gar nicht grün und machen sich nicht alle Lehrer beliebt. Die Klassenlehrerin stört das Geflecht der verkrusteten Antipathien ganz gehörig, indem sie mit den Schülern probt, was man sonst gern in ihrer Position müde gewordenen Managern antut: Zufällig zusammengewürfelte Teams sollen ein Projekt erarbeiten und ausführen, das sie in den "Ausnahmezustand" versetzt. Während Manager dem Befehl gehorsam folgen - sie haben ja Geld und Status zu verlieren - scheren sich die vier Kids des Problemteams keinen Deut um solche idiotischen Neuerungen. Sie kommunizieren nicht einmal.
Was Alice Gabathuler aus dieser scheinbaren Nichtsituation, aus der permanenten Weigerung entwickelt, ist verblüffend, spannend, und hat mir Alten dann den Schlaf geraubt. Ich glaube, das war der Effekt, Menschen wie in einem Reagenzglas eingesperrt zu erleben und zuzuschauen, wie sie sich da wieder herauswinden. Wie eine Schülerin vorher aufschrieb, sind sie im Ausnahmezustand auf sich selbst und ihr Inneres zurückgeworfen. Und da gärt und kocht es nicht nur tüchtig, es gibt auch einige kriminelle Verwicklungen, die die Gruppe schließlich wirklich in einen Ausnahmezustand versetzen, nämlich in akute Lebensgefahr. Außerdem schwelt da eine nicht minder drohende Gefahr für ein Gruppenmitglied, die sich keiner so recht vorstellen will. Wann würden ihm andere helfen und wie würde er selbst damit umgehen? Mehr will ich nicht verraten - außer dass ich Tina und die Knubbelknie von Anfang an ins Herz geschlossen hatte, ich hätte sie wohl auch als Jugendliche geliebt. Das Buch kann man Jugendlichen rückhaltslos empfehlen, es bietet Menscheln auf engstem Raum mit allen Gefühlen und Verstrickungen, es ist rasant und humorvoll, ja auch liebevoll den Figuren gegenüber geschrieben - und es fehlt wohltuend der pädagogische Zeigefinger.
Aber ich habe das ja als "Alte" gelesen. Manchmal war ich von Jessie mit ihrem Hang zum Nagellack genervt, als dann Drogen ins Spiel kamen, dachte ich zunächst, ach, nicht auch das noch. Aber dann fasste ich mich an der eigenen Nase und versuchte, in die Zeit zurückzudenken, als ich selbst sechzehn war. Verblüffender Effekt. Sollten Erwachsene öfter machen. So anders sind die Jugendlichen gar nicht! Die Jeansmarken heißen anders und wir hatten keine reichen Eltern und haben Jeans eben mit Tintenkillern und Bleiche entfärbt. Mit fünfzehn haben wir im Landschulheim die Lambrusco-Korbflaschen vor den Lehrern versteckt. Auch wir hatten erst mal nur im Kopf, wer in welche Clique aufgenommen wird, wer mit wem geht und wer wen aussticht.
Auch damals gab es Drogen, nur andere, in unserer Schule hießen sie Haschisch und LSD und mit siebzehn erlebten wir unseren ersten herointoten Klassenkameraden, Sohn aus reichem Hause, und einen, der im Dauertrip in die Psychiatrische kam. Und natürlich gackerten wir Mädchen längst auch nur noch über Kosmetik und tolle Klamotten, mit denen wir den Klassenschwarm bezirzen wollten und irgendwann auch manche Lehrer. Das mit der Kosmetik und dem heimlichen Schminken fing ja schon in der Grundschule an. Auch wir hatten sturzbürgerliche Eltern in der Klasse, die sonntäglich in der Kirche das gute Beispiel gaben und deren Kinder unter enormem Druck, unter Gewalt und anderen Dingen litten. So betrachtet, hat sich nichts verändert. Die heutige Jugend ist nicht besser oder schlechter als die damalige - und scheint Probleme auch nur mit kleinen Verschiebungen zu erleben.
Aber das ist nur oberflächlich. Wenn ich mir das Buch genauer anschaue, ist die Jugend darin sehr viel aufgeklärter, informierter und weniger naiv als wir damals. Die Freiheit, vieles zu tun, was uns oft unter hartem elterlichen Druck lange verboten war, erkauft sie sich mit dem Preis eines Verlusts. Es ist der Verlust einer allumfassenden, nicht sexuell gemeinten Unschuld. Da agieren fast schon kleine Erwachsene, die unseren elterlichen Druck durch einen eigengemachten zu ersetzen scheinen. Aber waren wir so anders? Haben wir nicht in der Pubertät neben unseren Weltschmerzgedichten noch ganz andere Hämmer versucht? Da wurden heimlich nachts Straßen gesperrt vor einer Behörde, um irgendeine politische Idee zu versinnbildlichen...
Das fällt mir auf an dem Buch. Auch wir haben uns aufgelehnt gegen die Erwachsenen, um uns selbst zu finden. Aber das war kein Kampf ums Bestehen im fröhlichen Markenland, das ging wirklich gegen das Establishment. Wir wollten gar nicht uns verändern, wir fühlten uns richtig (und litten trotzdem daran) - wir wollten die ganze Welt aus den Angeln heben und verändern. Wir hatten aber auch keinen Psychologieunterricht. Und wir hatten nicht all die Hilfsangebote und gesellschaftlichen Offenheiten zur Verfügung, die in diesem Buch eine große Rolle spielen. Damals litten Kinder still, ungehört und wenn es herauskam, auch von der Gesellschaft ausgeschlossen.
Was ich damit sagen will: Dieses Buch macht mir als "Alter" richtig Mut. Es gibt mir das Gefühl, von den Jungen von heute eine Menge lernen zu können und unser Altengejammer gehörig zu relativieren. Jugend war wohl noch nie leicht, aber diese Jungen haben uns von damals einiges voraus: Sie sind in vielem wacher, flexibler, improvisationsfähiger. Sie lernen - ebenso wie wir damals - sich in einer für die Eltern völlig veränderten, oft unvorstellbaren Welt zu bewegen und zu bewähren.
Jedes Mal, wenn ein "Alter" mal wieder den Spruch loslässt von "früher war alles besser" oder Zukunftsschwarzmalerei betrifft, möchte ich ihm dieses Buch in die Hand drücken und sagen: "Alter, wann hast du denn das letzte Mal den Ausnahmezustand geprobt?"
Lesetipp:
Alice Gabathuler: Das Projekt, Thienemann Verlag
Alice Gabathulers Blog
Liebe Petra,
AntwortenLöschenich hab das Buch gelesen und fand es auch toll und beeindruckend. Nur in einem muss ich dich berichtigen: Es behandelt zwar einen Ausnahmezustand, heißt aber "Das Projekt". Das nicht wegen Besserwisserei, sondern damit die, die du neugierig gemacht hast, dieses lesenswerte Buch auch finden ;-)
Liebe Grüße
Luise
Ach je, Luise,
AntwortenLöschenda habe ich aber noch tief geschlafen. Vielen Dank, ich habe es gleich verbessert!
Ich sehe schon die armen Buchhändler, die nach einem Ausnahmezustand suchen sollen...
Herzlich willkommen übrigens - man glaubt gar nicht, wer hier alles vorbeiliest ;-)