Menschenschätze

Gestern waren wir zur Recherche unterwegs. Menschen fragen. Menschen zuhören. Es ging in ein winziges Dorf mitten im Vogesenwald, in eine Welt, die es kaum noch zu geben scheint. Virtuell gesehen existiert dieses Dorf allenfalls als Ausgangspunkt für Wanderungen, vielleicht noch zum Einkehren, aber in Bits und Bytes gemessen ist es eigentlich nur eine Fata Morgana. Aber es ist da, aus Stein und Holz und schmucken Fachwerkhäusern, noch nicht verkitscht, noch nicht vertouristet - und da sind seine Menschen...

Sie sind voller Geschichten und Erinnerungen, sprudelten munterer als der Dorfbrunnen. Ließen uns teilhaben an Kriegserlebnissen, an Schmuggelgeschichten, an Spaß und Zeitvertreib im Vormedienzeitalter. Und immer wieder spürbar die frühere Angst vor der Grenze, die Erleichterung, als nicht mehr nachmittags um fünf der Schlagbaum fiel, endgültig, bis zum nächsten Tag. Und dann die einfachen Genüsse, es dufteten förmlich der Kirschschnaps, die Apfelkiechle und dann gab es einen grenzüberschreitenden Vergleich der Urflammkuchen. Mit dem Genießen schien aller Austausch einen Anfang gefunden zu haben, da wurde das Geld mühsam zusammengekratzt und dann aßen die Deutschen zum ersten Mal in ihrem Leben in Frankreich Pommes Frites und die Elsässer wanderten nach Deutschland hinunter für ein Eis zwischen Waffeln.

Sie haben viel erzählt, früher, zuerst in den Spinnstuben, dann in den Strickkreisen am Kachelofen, lange dunkle Winterabende lang. Sie würden immer noch viel erzählen, aber immer weniger hören zu.
Wir machen Notizen, lauschen, fragen, wählen nachher aus und erinnern uns ans Erinnerte. Aber vor allem sind wir Beobachter von außen. Wir sehen die Schätze, jeder Mensch ein unverwechselbarer Reichtum. Und wir beobachten, wie mit dem Schwinden des Erzählens auch die Erinnerungen sterben und die Kulturen sowieso. So vieles gibt es nur noch als inneres Bild.

Die uralten Kirschbäume am Dorfrand fallen uns noch auf, weil wir mit geschärftem Blick daran vorbeifahren. Wer aber wird die Geschichten von dem jungen Mädchen bewahren, dass sich plötzlich mitten in der Idylle zwischen Minen wiederfand? Wer wird sich erinnern an die Wärme und Herzlichkeit, die trotz bitterer Armut und schwerer Arbeit das Leben lebenswert machte? So viele Menschen. Und jeder Mensch eine Geschichte.

Ich bin ganz klein geworden, als es hieß, wir würden im Wald für die Enkel Zeichen setzen, damit das Früher nicht verloren ginge. Kann man das, Erinnerungen und Leben in kurzen Texten sozusagen festnageln, damit sie Wind und Wetter und Generationen überleben?

Es ist schon komisch. Da träumen so viele Schriftsteller davon, etwas "Unsterbliches" von sich selbst zu hinterlassen - ausgerechnet in einer Zeit, in der Bücher oft nach Monaten schon verramscht werden oder zumindest rein technisch nicht mehr so lange überleben wie einst. Dabei sind wir selbst die Sterblichsten von allen. Wir versuchen mühsam, zu erzählen. Wundern uns, dass die richtigen Worte so oft fehlen. Und vergessen so oft, dass Erzählenkönnen mit dem Zuhören beginnt.

12 Kommentare:

  1. 1. Reaktion - eine Abwandlung "Die untertraegliche Leichtigkeit des Seins".

    Weiteres folgt.

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  2. Tauschen wir eine wahrlich nicht perfekte Bodenstaendigkeit, ein Leben der verhaeltnissmaessigen Zufriedenheit und Bestaendigkeit in einer Achterbahnfahrt des 21. Jahrhunderts, mit extremen Hoehen und Tiefen, unglueckliche Menschen die nach Orientierung suchen und hilflos nach einem Strohfeuer das naechste Strohfeuer suchen und sich wundern warum es kaelter und explosiver geworden ist?


    Anders gefragt, gibt es heute noch Szenen wie in "Jenseits von Afrika" in dem der Gast die erste Zeile einer Geschichte sagt und die Gastgeberin die Magie einer wunderschoenen, spontanen Erzaehlung entfalten laesst, weil sie lebt, erlebt und eine dazu noch Phantasie besitzt? Koennen wir so-etwas heute ueberhaupt noch?

    Das Elsass polarisiert - und wer es sieht und erkennt, merkt ganau: das ist unser Problem! Wir ersetzen unsere fuenf Sinne in einen einzigen Stumpfsinn. Und landen in genau der gleichen Fata Morgana wie unsere Dorfbewohner.

    Die Leichtigkeit des Seins, die Einfachheit, sie ist oft unertraeglich geworden und wir nehmen uns heutzutage viel zu wichtig.

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  3. Ich weiß es nicht...
    Ich weiß nicht einmal mehr, ob es nur im Elsass so "passiert" oder ob es nur eine bestimmte Sichtweise ist, die überall auf der Welt Ähnliches zutage brächte. Ich erinnere mich an 1993 in Warschau, wo noch Vergangenheiten existierten, die wir uns kaum vorstellen können - und daneben ein Turbokapitalismus entstand, der selbst Kapitalisten krank machte... Kann man das nicht in allen "Schwellenländern" so erleben?

    Ich könnte jetzt eine Menge über alte Leute und Arbeit mit Zeitzeugen erzählen ... was mich daran vor allem fasziniert - wie an der historischen Arbeit auch - man lernt, die eigene Zeit zu relativieren, sich selbst zu relativieren. Sich selbst zu hinterfragen... Und dann werden nicht nur die Pseudoprobleme ganz klein (ich habe noch Leute gekannt, die drei Kriege überstanden hatten in der Familie). Dann ahnt man vielleicht, was das Leben tatsächlich ausmachen könnte.

    Wir können nicht mehr rückwärts, das macht vielen die Sehnsucht nach der Geborgenheit so bitter. Wir haben uns verändert, sind individualistischer, glauben nicht mehr an den Weihnachtsmann. Diese "glücklichen" Welten funktionierten auch deshalb, weil sie geschlossene Systeme waren, restriktiv. Anpassungssysteme, Überlebenssysteme. Wehe, da fiel einer raus. Wollen wir das? (Die Gefahr basteln wir uns mit unserem Sicherheitsenken).

    Tja, wie schafft man den Schritt zurück von sich selbst, von den Ängsten und der Trauer? Vielleicht können wir auch das von der ältesten noch lebenden Generation lernen: Jede Generation hat das Ihre geschafft. Selbst Generationen, die wir heute großzügig bedauern und für verlorene halten, haben ein Leben gehabt, das es wert war...

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  4. Ob es heute noch solche Szenen gibt, fragen Sie...
    Ja. Selten, aber umso wertvoller. Blödes Beispiel: Bücher können das auch. Ich habe gerade stellenweise mit angehaltenem Atem so eins gelesen, in dem ich in die fremdesten Welten und Zeiten eingetaucht bin und nachher wusste, warum das Leben so besonders ist. Colum McCann: Der Himmel unter der Stadt. Göttlich, wie der Mann schreiben kann, aber man spürt: der erfindet nicht nur am Schreibtisch.

    Kunst kann das. Wenn besondere Menschen dahinterstehen. Und da gibt es manchmal Orte, die man gar nicht verraten möchte, damit sie ihren Zauber nicht verlieren. Das Galand bei Kehl ist so einer (www.galand.de), wo nicht einfach nur Kunst und Kultur lebt, da gerät man auch an besondere Gäste und Geschichten und Leben... weil die Gastgeber besonders sind.
    Kultur wärmt. Falls man sie nicht kaputtspart, um des Profits willen.

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  5. Heute frueh gelesen: "Die Gier beginnt wo die Armut aufhoert" Balzac, Die Verlorene Illusion.

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  6. Hierfür stelle ich sogar auf deutscher Tastatur um.
    Ich zitiere:

    Die Dinge, für die es sich wirklich zu leben lohnt, kosten nie etwas. Es kostet dich keinen Kreuzer, daß dein Geist das großartig Vielgestaltige, die Wissenschaft, aufzunehmen vermag. Es kostet dich auch keinen Kreuzer, daß du in Italien bist, daß über dir der italienische Himmel ist, daß du durch italienische Straßen gehen und im Schatten italienischer Bäume sitzen darfst und daß abends die Sonne italienisch untergeht. ..... Es kostet dich keinen Kreuzer, hin und wieder glücklich zu sein. Geld kostet nur das, was darum herum ist, um das Glück herum, all die dummen, langweiligen Requisiten. Es kostet kein Geld, in Italien zu sein, aber es kostet etwas, hierherzureisen und ein Dach über dem Kopf zu haben. Es kostet kein Geld, daß die Frau deine Geliebte ist, sondern nur, daß sie zuweilen essen und trinken und sich anziehen muß, damit sie sich wieder ausziehen kann. Doch die Spießbürger leben schon seit eh und je davon, daß sie sich und die anderen mit Dingen eindecken, die Geld kosten, und so haben sie die Dinge vergessen, die umsonst sind."

    aus Antal Szerb, Reise im Mondlicht.

    Es ist ganz einfach die Sanduhr umzudrehen - man muß es nur wollen. Aber ich glaube unsere Generation kommt jetzt in das Alter in dem wir die wahren Werte des Lebens für uns entdecken, was die Generation unserer Kinder noch vor sich haben.
    Es kann kein Zufall sein, dass die Gattung "Mensch" so lange überlebt hat.

    Ich glaube allerdings auch, wir haben das restriktive System der Vergangenheit durch andere Restriktionen ersetzt - wir haben aber auch die Freiheit und Möglichkeit uns daraus zu befreien, wenn wir wollen, doch das setzt eine gewisse Denkfähigkeit voraus. So braucht man nicht rückwärts zu gehen sondern kann mit dem Wissen und der Erkenntnis, vorwärts gehen.

    Und, ich beginne zu lernen, das die Kunst hier eine wichtige Rolle spielt, dieses Gleichgewicht herzustellen - und es gibt eine ganz bestimmte Situation in der ich dieses auch praktiziere. Ich wusste es nur bis eben nicht! Merci!!

    Last but not least, wie lautet der Originaltitel "Der Himmel unter der Stadt"?

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  7. Nicht, dass es so aussieht, als würde ich hier die Leute beschweigen - den Titel haben Sie ja nun und zum Thema Kunst bin ich fasziniert dabei, Ihr Blog zu lesen (The Pick Blog in meinem Menu). Und wenn ich endlich diesen Arbeitswust hier weggeschafft habe, kann ich auch noch etwas dazu sagen...

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  8. Merci,
    sie tun viel und sagen noch viel mehr, auch wenn es nicht direkt im Zusammenhang zu meinem Blog steht.

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  9. In dem Land, aus dem meine Familie stammt, gabe es eine sozusagen fixe Erzählstunde. Schummerstund' hieß das. Es war die Stunde zwischen hell unhd dunkel, zwischen Tag und Nacht, wenn die Dämmerung über das Land fiel und man in der Stube nach der Vesper (heute dem Kaffee) beisammen saß, und die älteren Familienmitgliedern mit zunehmender Dunkelheit zu erzählen begannen. Das Licht blieb aus, allenfalls eine Kerze wurde angezündet, denn im Dunkeln sieht die Erinnerung am besten und die Fähigkeit des Zuhörers die Bilder zu sehenist am größten.
    Für mich war es das größte Geschenk, als wir erst in den 70er Jahren die in den Kriegswirren von 1945 verschollen geglaubte Familie in Polen wieder fanden.
    Es war die Tante, die dann von ihrer Jugend auf einem Bauernhof erzählte, von alten deutschen und polnischen Traditionen, vom Leben in einem Land der Stille, der Weite, das bis heute der Inbegriff der Idylle ist - was es niemals war.
    Und da sind wir am Punkt. Für mich waren diese Stunden Geschenke, ein Schatz, da erfuhtr ich all die Traditionen, alles über das Leben, was Familien geprägt hat und das machte auch mich erst ganz, erklärte die Denke, dieses ganz andere Koordinatenkreuz der Bezugspunkte, die das Selbstverständnis meiner Familie ausmachten und die mir, die ich in einer anderen Welt gut 1000 Kilometer westlich doch fremd waren.
    Auch ich wollte etas mitteilen, von diesen gelebten Leben, denn im Laufe der Jahre lernte ich noch andere solche Menschen kennen und fand das alles mitteilenswert, wollte es ohne reißerisches Beiwerk berichten, von mir auch im Kontext zum Landleben heute.
    Doch, da war Interesse, oh ja. Aber wenn, dann bitte als Reißer oder noch leiber die verlogene masurische Idylle und dann habe ich gedankt und diese/diesen Artikel nie geschrieben. Ich habe etwas anderes geschrieben, was mittlerweile zu den am meisten zitierten Abschnitten eines meiner Bücher gehört:
    "Ein klappriger, alter Bauer sitzt nach getaner Feldarbeit gebeugt auf seinem Wagen, der von einem noch klapprigeren Pferd heim gezogen wird. Die einsame Straße , über die malerisch ein Storch fliegt, führt direkt in den Sonnenuntergang hinein ... die Medien zeigen gern die große Armut und dörfliche Idylle vergangener Zeiten, aber nicht den enormen Wandel. Polen, auch Masuren ist mehr als verlogene Idylle, auch mehr als ländliche Armut, sondern eine Region voller Gegensätze, wie ganz Polen. Doch allzu oft möchte man meinen, hinter jedem klapprigen Pferdefuhrwerk ist ein Kamerateam her."
    Weniger denn je sind unsere Medien bemüht ein zutreffendes Bild eines Landes, einer Region und der dort lebenden Menschen zu zeichnen, dabei haben wir Schreiberlinge doch eine ganz besondere Verantwortung, was für ein Bild da in die Gesellschaft transportiert wird. Doch Quote zählt. Punkt.
    Von den Menschen und was sie wirklich zu erzählen haben kein Wort. Wie viel geht uns da verloren!

    Brigitte Jäger-Dabek

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  10. Liebe Frau Jäger-Dabek,
    haben Sie ganz besonderen Dank fürs Teilen dieser Geschichte - ich finde da so vieles wieder!

    Als ich 1993 nach Warschau zog und unbedingt arbeiten wollte, war ich mir sicher, als Journalistin von überall berichten zu können. Und schließlich konnten sich auch damals schon nicht alle Zeitungen Korrespondenten in Polen leisten. Welch böses Erwachen, als all meine Themenvorschläge abgelehnt wurden. Ja, wenn Sie etwas über die armen unterdrückten Schlesier schreiben könnten, irgendwelche Auseinandersetzungen, vielleicht werden Sie als Deutsche schlecht behandelt, das kaufen wir als Aufmacher!

    Anfangs habe ich noch versucht zu erklären, dass ich mit offenen Armen und herzlichst aufgenommen würde, von Menschen mit riesigen Herzen, die auf eben jene schauten. Und dass die Schlesier ganz und gar nicht unterdrückt und bekämpft würden. Dann gab ich irgendwann auf und schämte mich für meinen Beruf. Lernte Polnisch. Ich habe dann für die Polen geschrieben und junge polnische Journalisten unterrichtet, wie man mit diesen seltsamen Aliens von deutschen Chefs zurande kommt. Die kamen ja gerade wie die Heuschrecken...
    Ich denke, es war die Zeit in Polen, die mir meinen ursprünglichen Beruf in weiten Teilen abspenstig machte

    Und noch etwas in ihrem Beitrag lässt bei mir Saiten klingen. Eine Familie, von der ich gar nichts wusste. Und ich stehe am ersten Abend hinter dem Haus und aus den Höfen kommt Küchengeruch und ich bin völlig überwältigt und stammle nur noch "hier riecht's wie in der Küche bei meiner Oma." Aber das ist dann eine gaaaaanz lange andere Geschichte.

    Jedenfalls haben Sie mich jetzt furchtbar neugierig auf Ihre Bücher gemacht! In Ihrem Polenmagazin schmökere ich ja schon lange.

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  11. Schade, Ihr Bloggerprofil ist nicht freigegeben. Den Link zum Polenmagazin findet man in meinem Menu rechts unter "statt Zeitung"!

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  12. Es fehlen mir momentan die Worte - ich muss es erst verinnerlichen und darueber nachdenken. Dann habe ich vielleicht gelernt, die wundervolle Schoenheit der letzten Beitraege des hiesigen Dialoges in einer Weise zu kommentieren die meiner Bewunderung, meinen Respekt zum Ausdruck bringt. Der Drang zum kommentieren, beizutragen, mitzuerzaehlen ist ungeheuer - das natuerliche Handwerk muss ich weiter erwachen lassen bzw, durch andere provozieren lassen.
    Und in welcher Sprache - es stehen unter uns dreien, mindestens 4 zur Verfeugung.

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