Fjodor oder die Zeitenschmelze
Spulen wir einmal die Zeit zurück. Das übersättigte und verfeinerte Westeuropa langweilt sich gründlich. Fin-de-siècle heißt das Lebensgefühl, das selbst Angst, Tod und Untergang noch ästhetisiert - während man auf den Weltuntergang wartet und überall Zeichen liest. Man tanzt auf dem Vulkan und lebt aus dem Vollen - nur ist irgendwie vor lauter Lebensgefühl das Gefühl fürs Leben abhanden gekommen. Selbst die Opernaufführung am Wochenende ist zum Defilée der Roben verkommen, zum gemäßigten Genuss des Erwartbaren. Wenn da nicht in dieser Pariser Saison im Jahr 1908 ein exotischer Name auf dem Programm stünde: Fjodor Schaljapin.
Die Russen kommen. Eigentlich sind sie längst in der Stadt, haben ganze Häuserzeilen erobert: als Emigranten, Hungerleider, Anarchisten, Künstler. Viele von ihnen sprechen Französisch, die Verbindungen beider Länder sind nicht neu. Doch jetzt machen sie ernst. Einer von ihnen will Europa erobern, aber keineswegs durch Anpassung. Sergej Diaghilew bringt die sperrigste, exotischste Oper auf die Bühne, die man sich zu dieser Zeit nur denken kann, voller Folklore und Anklänge an Lithurgie - und er lässt sie gnadenlos komplett auf Russisch singen. Mussorgsky hat die Oper "Boris Godunov" komponiert, Rimsky-Korsakoff hat sie bearbeitet. Und die verfeinerten und übersättigten Pariser sind hin und weg, als sich ihnen der damals schon berühmte Fjodor Schaljapin in die Herzen singt. Der Mann, der den Weg frei singt für die Ballets Russes, der mit Nijinsky verkehrt und von Nijinskys Schwester schließlich sogar liebend verehrt wird. Schaljapin geht als weltberühmter Jahrhundert-Bass in die Geschichte ein.
Ich habe gestern zum ersten Mal in Muße die ganze Oper in einer außergewöhnlichen Aufnahme anhören können und dann nicht schlecht gestaunt. Nach dem letzten Akt lief die CD nämlich einfach weiter. Mir war das Extra völlig entgangen, restauriert vom genialen Mark Obert-Thorn: Fjodor Schaljapin als Boris Godunov.
Die letzten Sätze im "Nijinsky" fügte ich beim Hören von Schaljapins Gesang ein. Auch wenn es schwierig ist, mit heutigen Hörgewohnheiten und durch den Filter der Technik zu erahnen, wie das Original damals auf der Bühne geklungen haben mag, ist diese Stimme umwerfend. Spontan fällt mir nicht "Mensch" oder "Mann" oder "Sänger" als Bezeichnung ein, sondern "Klangkörper". Ein Klangkörper, der unwahrscheinliche Weiten umspannt und doch hochflexibel und lebendig ist. Eine Stimme mit Charisma. Eine Leichtigkeit in den Stimmungsschwankungen, so dass Trauer und Triumph, Klage und Freude dicht nebeneinander liegen; derart dicht, dass das eine ohne das andere nicht denkbar ist. Wenn jemand sogar russische Weichheitszeichen singen kann - dann er. Wenn einer den Boris nach hundert Jahren noch lebendig sterben kann, dann Fjodor Schaljapin.
Nijinsky, der so weit entfernte und doch so nahe Nijinsky, hat ihm die Hand geschüttelt, mit ihm Tee getrunken, ihn gehört. Die Stimme eines längst Verstorbenen, die aus meinen Lautsprechern klingt, hat mit Nijinsky gesprochen, hat auch für ihn gesungen. Vor mir breitet sie Welten aus, unendliche Weiten, in die das russische Glockenspiel Mussorgskys klingt und mit meinen eigenen Bildern singt. Tiefblauer Schmerz und blütenberauschter Tanz nur Takte voneinander entfernt - und das Gesungene formt sich zur in diesem Moment schönsten Sprache der Welt. Das hat nichts von der Blutleere eines Fin-de-siècle und doch ist es opernschönes, wundervoll herzangreifendes Sterben. Oder sagt man dazu Leben? Die weichen Laute, das sanfte Zischen, das russische Glockenspiel - sie verschmelzen Kulturen und Zeiten. 2011 ist nicht mehr. Ich bin nicht mehr.
Was zählt, ist dieser Hauch aus einem urvertrauten Irgendwo. Herzzerreißend traurig und himmelerhebend, tragisch-schön - genauso wie das Beenden eines Manuskripts, das zu einem Teil des Lebens wurde. Vielleicht ist das ein Geheimnis dieses magischen letzten Punkts unter einem Manuskript: Wenn man ihn setzt, hat man sich längst verwandelt. Und dann gibt es nur noch eins: vorwärtsschreiben...
Jetzt habe ich Gänsehaut. Danke.
AntwortenLöschen"Vielleicht ist das ein Geheimnis dieses magischen letzten Punkts unter einem Manuskript: Wenn man ihn setzt, hat man sich längst verwandelt. Und dann gibt es nur noch eins: vorwärtsschreiben..."
AntwortenLöschenDas nehme ich mit in den Tag, in die Tage, liebe Petra!
Christa
Ich habe immer noch Gänsehaut: Ich komme von meinen Russen einfach nicht los... ;-)
AntwortenLöschenBei JEDEM Manuskript bisher gab es irgendwann den Punkt, wo ich es nicht mehr sehen konnte und mit den darin vorkommenden Personen lange, lange nichts mehr zu tun haben wollte.
Nun sitze ich da mit meiner neugewonnenen Freiheit im Kopf. Tja. Sehnsucht statt Befreiung.
Zum Glück sind jetzt allerhand technische Aufgaben zu lösen. Ist doch ganz schön spannend, ein Manuskript wirklich druckfertig zu machen. Hach, und ich muss noch schleunigst in New York, Washington und Paris Fotos einkaufen.
Shoppinggrüße,
Petra
Ich seh es schon kommen: Jedes erdenkliche Thema wird in Zukunft auf seine Russlandfähigkeit hin abgeklopft werden, vorzugsweise die Zeit Anfang des letzte Jahrhunderts.
AntwortenLöschenUngeahnte Einsichten stehen uns bevor!!!
;-)
Du wirst lachen, aber eine Idee liegt längst in der Schublade ;-) Allerdings ein wenig größer und weiter, mindestens bis New York!
AntwortenLöschenHab ich was anderes erwartet???
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