Wiederentdeckt: Turgenjew

Gegen den Hype, Bücher zu besprechen, wenn man sie noch gar nicht lesen kann, setze ich gern Ausflüge in meine Bibliothek: Bei welchem Buch lohnt sich ein zweites Lesen? Wer ist zu Unrecht in den Buchläden vergessen? Ich gestehe: Ich lese auch Bücher, die keine Neuerscheinungen sind. Dann erst recht.

Eine meiner großen Wiederentdeckungen des vergangenen Jahres war der russische Schriftsteller und Vertreter des Realismus Iwan Turgenjew mit seinem Roman "Väter und Söhne". Ich habe schon in der Schulzeit nebenbei gejobbt, um mir seine Bücher leisten zu können, liebte vor allem die meisterhaften kleinen Erzählungen. Ähnlich wie bei Puschkin geriet ich schon nach wenigen Sätzen in diesen Sog einer anderen, faszinierenden Welt. Es handelt sich also um einen Schriftsteller, den man innerhalb von Jahrzehnten immer wieder lesen kann - und jedes Mal wird man neue Welten in seinen Büchern entdecken.

Was ich an Turgenjew besonders liebe, ist seine außerordentliche Fähigkeit, Menschen und ihr Umfeld zu charakterisieren. Seine Romanfiguren wirken deshalb so überaus lebendig, weil er ihnen innere Widersprüche lässt, weil er nicht sofort alles aufdeckt, weil er ihnen Raum zur Entwicklung zugesteht. Turgenjew übersetzt Leben in Text, er ist keiner von diesen modernen Autoren, die Gegenspieler mit Software zu konstruieren scheinen - seine Figuren sträuben sich, haben Ecken und Kanten, sind unbequem, liebenswert, schwach, innerlich reich oder dumm - und obendrein ist er ein Meister der Komposition. Wie ein zufälliges Gemälde nach der Natur fügen sich die Szenen ineinander, wohldurchdacht. Und noch die kleinste Nebenfigur ist ein Festschmaus, Augenschmaus möchte man fast sagen, denn wie von wenigen Pinselhieben gemalt tritt sie einem plastisch entgegen.

"Väter und Söhne" scheint für moderne Kostverächter vielleicht ein etwas angestaubter Roman zu sein, denn er ist 1862 erschienen. Und vielleicht interessiert auch nicht jeden modernen Leser, dass der westlich orientierte Turgenjew, der schließlich auch in Baden-Baden gewohnt hat, zu jener ersten Welle von russischen Kulturschaffenden gehörte (die zweite folgte ab 1909 mit den Ballets Russes), die westliche Kunst und Literatur entscheidend beeinflusst haben.

"Väter und Söhne" handelt, wie der Titel verrät, von einem Generationenkonflikt, der jedoch weit mehr ist und darum Konsequenzen größeren Ausmaßes hat. Da ist der Sohn Arkadij Kirssanow, der noch nicht den Schritt ins völlig selbstständige Leben vollzogen hat und seinen Freund Jewgenij Basarow in labiler, aber begeisterter Art verehrt. Sein großes Vorbild ist ein Mensch, wie er in vielen Umbruchsepochen vorkommt: Basarow erkennt keinerlei Autorität an, weder die der Elterngeneration noch äußere. Der studierte Mediziner, der ebenfalls noch nie gearbeitet hat, ist überzeugter Nihilist und Atheist. Er glaubt an nichts, hinterfragt alles, übernimmt grundsätzlich die Gegenposition. In Arkadij hat er einen Freund gefunden, den er formen kann.

Beide "modernen Städter" machen eine Landpartie zu Arkadijs und nachher auch Basarows Eltern und werden dort mit der traditionellen Lebensweise konfrontiert, die sie am liebsten gestern schon abgeschafft hätten. Misswirtschaft und tiefe Frömmigkeit, Adelsdünkel und Vaterlandsliebe, überkommene Rollenspiele und das Gefühl, dass sich in dieser Welt nichts, aber auch gar nichts bewegt, bringen die Söhne gegen die Väter auf.

Natürlich, möchte man fast spotten, mischt eine Frau diese zunächst allzu saubere Konfrontation auf - aber Turgenjew wird hier nicht plakativ, sondern immer vielschichtiger. Anna Odinzowa ist Gutsbesitzerwitwe mit einem sehr eigenen Kopf, viel zu alt und viel zu lebenserfahren für die beiden unerfahrenen jungen Männer, deren Revolution sich vorwiegend im Kopf abspielt. Und ausgerechnet der, der an nichts glaubt, auch nicht an die Liebe, verliebt sich in sie. Nein, es gibt keinen Schmalz und nichts zum Schmachten, Turgenjew wäre nicht der große Schriftsteller geworden, wenn er nicht die Gelegenheit genutzt hätte, die unterschiedlichen Weltentwürfe gegeneinander ankämpfen zu lassen. Die Situation verschärft sich, als eine Typhus-Epidemie den gelernten Arzt Basarow zur ersten praktischen Entscheidung seines Lebens zwingt.

Der Konflikt zwischen Vätern und Söhnen ist mehr als ein Generationenkonflikt. Er zeigt die Welten, die in Russland aufeinanderprallten, als die Leibeigenschaft abgeschafft wurde. Damit zeigt der Roman auch einen geistigen Konflikt in einer politischen und ökonomischen Krisenzeit, in der eine einst reiche Kaste, die alle auspresste, plötzlich ihre sprudelnden finanziellen Quellen verloren hat und Gefähr läuft, auch den Einfluss ihrer Werte zu verlieren. Neue Kräfte erstarken, Menschen, die jene Werte in Frage stellen, die mehr Gerechtigkeit und weniger Aberglauben einfordern, die ein neues System wünschen, ohne jedoch konkret benennen zu können, wie es aussehen sollte.

"Väter und Söhne" hat zu seiner Zeit so hohe Wellen geschlagen, dass Turgenjew durch die Auseinandersetzungen Russland verließ. Sein Roman über die Umbruchskrise eines ökonomischen Systems, das versagt hat, aber die Macht nicht abgeben will - und über Menschen, die die Notwendigkeit einer Neuerung ahnen und wünschen, aber deren Werte noch nicht gefunden haben, ist brandaktuell. Seine Menschen sind ein einziges Vergnügen, denn in jedem von ihnen steckt sehr viel mehr, als sie vor sich zugeben wollen. Es ist auch ein weiser Roman, der ahnen lässt, worauf es im Leben ankommt, ohne Zeigerfinger, ohne offensichtliches Politisieren. Kurzum - ein literarisches Fest.

Lesetipp:
Iwan Turgenjew: Väter und Söhne, insel taschenbuch

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