Aus der Distanz zur Nähe
Ich möchte noch einmal unbedingt das Video "Was ist die Kunst des Übersetzens" empfehlen, das ich mir heute in einer Übersetzungspause angeschaut habe. Mich ließ nämlich die Frage nicht los, die ich mir nicht erst seit heute morgen stelle: Warum ich ausgerechnet aus der Sprache übersetze, zu der ich innerlich die größte Distanz habe - und nicht aus einer, die mir emotional sehr gleicht.
Mein Alltag besteht aus drei ständig gesprochenen und gehörten Sprachen, von denen Französisch die Hauptsprache ist, während meine Muttersprache eher den Weg des Geschriebenen geht und das Elsässische in einer sehr eigenen Art Brücken zwischen beiden schlägt. Wenn ich mich dann manchmal in babylonischer Sprachverwirrung befinde, weil man in diesem Landstrich das Vokabular auch innerhalb von Sätzen wild wechseln kann, nehme ich nicht mehr wahr, wie ich mich selbst ausdrücke. Aber eigenartigerweise fließen Emotionen am leichtesten auf Polnisch, was ich daran bemerke, dass mich alle großäugig anschauen, weil sie nichts verstanden haben. Ich verfalle in intellektuellen Diskussionen schnell ins Französische, muss mich dann manchmal mühsam selbst ins Deutsche übersetzen und scheitere am dort modernen "Spezialsprech" von Insidern. Dafür suche ich verzweifelt im Französischen nach den vertrauten Wortspielen oder der Würze knapper konkreter Angaben des Deutschen - oder der blumigen bis deftigen Poesie des Elsässischen.
Ich habe in meinem Leben Sprachen immer extrem leicht und schnell gelernt (im Gegensatz zu Mathematik). Nach drei Monaten konnte ich Polnisch einigermaßen fließend sprechen und schreiben. Nur mit einer Sprache habe ich mich immer äußerst schwer getan, obwohl ich sie von Kindesbeinen an hörte, denn ich bin in einer französischen Garnisonstadt an der Grenze aufgewachsen. Genau das war vielleicht der Fehler? "Kinder, lernt jetzt Altgriechisch", meinte der Schuldirektor, "das könnt ihr später nur noch schwer, Französisch habt ihr um euch herum, das lernt ihr dagegen im Handumdrehen und jederzeit im Leben!" - "Studenten, setzt euch auf den Hosenboden fürs Hebraicum, Französisch könnt ihr nachher immer noch im Ferienkurs im Land belegen", fand der Professor. Ich muss kaum erwähnen, dass ich niemals auch nur irgendeinen Kurs in der Sprache des Nachbarlandes belegte und statt Ferien zum Radikalmittel Emigration griff. Aber auch der einstige französische Ehemann änderte nichts daran, dass ich über französischer Grammatik jammerte und stöhnte, während ich die Grammatiken anderer Sprachen nicht einmal zu pauken brauchte.
Es gibt diese Szenen immer noch, wo ich nach einem Gespräch auf Französisch zu einer Deutschen sage: "Was habe ich wieder herumgestottert, ich habe wieder nicht genau das sagen können, was ich sagen wollte!" Und mein Gegenüber runzelt die Brauen, will mich so gar nicht verstehen. "Aber du hast doch fließend gesprochen?"
Irgendwie muss da aber mehr sein als das fließende Sprechen, Lesen oder Schreiben. Es fühlt sich für mich an wie ein Rollenspiel im Theater. Ich kann mit einer Rolle derart verschmelzen, dass sie mir wie auf den Leib geschneidert scheint, dass ich völlig unbewusst die richtigen Register ziehe. So wie ich das in meiner Muttersprache auch mache, wo ich arg alt aussehe, wenn mich einer nach Grammatikregeln fragt. Und dann gibt es die Rollen, die man sich erst erkämpfen muss, die einem fremd oder anders, vor allem aber unbequem erscheinen. Bei diesem Spiel schalte ich nicht ab, ich bin mir jeder einzelnen Geste, jeder mimischen Veränderung bewusst. Ich hebe nicht den Arm, weil ich in einer gewissen Situation automatisch den Arm hebe; ich hebe ihn, weil mir bewusst ist, dass ich mit dem Heben des Arms in genau dieser Situation genau jene Wirkung hervorrufe. Ich habe gelernt, wann man den Arm eher hebt oder senkt, ich fühle mich nicht frei und spontan in meinen Bewegungen.
Diese übergroße Bewusstheit, die ich natürlich nicht immer so intensiv wahrnehme, lässt ein Gefühl von Distanz entstehen. Es ist eine Distanz, in der ich mich, meine eigenen Worte und Gedanken ständig in Bezug setze, ständig am anderen vergleiche. Zuerst fiel mir auf, dass das gemeinhin hochgelobte gegenseitige Verständnis von Franzosen und Deutschen auf einer Menge von Vorurteilen und Illusionen beruht - und genau darum oft nur an der Oberfläche funktioniert. Das liegt aber schon daran, dass beide Sprachen völlig unterschiedlich funktionieren, dass die eine eher mit der Nadel zusticht und die andere eher etwas umkreist. Als Übersetzerin stehe ich da wie ein Schmetterlingsjäger, der die flüchtige Brillanz flatternder Flügel aufspießen soll, dazu aber unter keinen Umständen einen Kescher benutzen darf, sondern eine Weile mit den Schmetterlingen durch die Luft gaukeln sollte.
Inzwischen glaube ich, es ist schwieriger, auf das Naheliegende - nämlich den Kescher - zu verzichten, wenn man zu sehr mit der Aufgabe verschmilzt. Die Distanz lehrt einen Anschauung und Beurteilung von Methoden - sie schafft jedoch auch eine Distanz zur eigenen Sprache, zur eigenen Denkwelt. Muss man denn wirklich einen Schmetterling nach dem anderen auf ein Brettchen aufnadeln? Gibt es nicht noch viel mehr Methoden, den Farbnuancen und der Schönheit gerecht zu werden?
Genau hier ist ein fast magischer Punkt beim Übersetzen erreicht. Fremdsprache und Muttersprache kreuzen sich. Aus dem Kokon der Rohübersetzung können so vielfältige Texte fließen, so überraschende Schmetterlinge sich entpuppen. Es ist nie etwas eindeutig "Schwalbenschwanz", wenn es an einem besonders glühenden Rot gesessen, von einem seltenen Nektar genascht hat. In diesem Moment erreichen beide Sprachen genügend Distanz zum Übersetzer, so dass sie sich unabhängig von diesem miteinander zu unterhalten scheinen. Darum ist Übersetzen zu großen Teilen Hinhören, Lauschen, Schauen. Und darum kann vielleicht die Rolle, die man sich erst erkämpfen musste, die viel interessantere Herausforderung sein?
Oder ganz lapidar gesagt: Fast 450 Seiten stehen nun zur Überarbeitung an, keine 200 mehr sind zu übersetzen. Bergarbeiterarbeit, denn Anfang 2011 soll das Buch erscheinen.
Mein Alltag besteht aus drei ständig gesprochenen und gehörten Sprachen, von denen Französisch die Hauptsprache ist, während meine Muttersprache eher den Weg des Geschriebenen geht und das Elsässische in einer sehr eigenen Art Brücken zwischen beiden schlägt. Wenn ich mich dann manchmal in babylonischer Sprachverwirrung befinde, weil man in diesem Landstrich das Vokabular auch innerhalb von Sätzen wild wechseln kann, nehme ich nicht mehr wahr, wie ich mich selbst ausdrücke. Aber eigenartigerweise fließen Emotionen am leichtesten auf Polnisch, was ich daran bemerke, dass mich alle großäugig anschauen, weil sie nichts verstanden haben. Ich verfalle in intellektuellen Diskussionen schnell ins Französische, muss mich dann manchmal mühsam selbst ins Deutsche übersetzen und scheitere am dort modernen "Spezialsprech" von Insidern. Dafür suche ich verzweifelt im Französischen nach den vertrauten Wortspielen oder der Würze knapper konkreter Angaben des Deutschen - oder der blumigen bis deftigen Poesie des Elsässischen.
Ich habe in meinem Leben Sprachen immer extrem leicht und schnell gelernt (im Gegensatz zu Mathematik). Nach drei Monaten konnte ich Polnisch einigermaßen fließend sprechen und schreiben. Nur mit einer Sprache habe ich mich immer äußerst schwer getan, obwohl ich sie von Kindesbeinen an hörte, denn ich bin in einer französischen Garnisonstadt an der Grenze aufgewachsen. Genau das war vielleicht der Fehler? "Kinder, lernt jetzt Altgriechisch", meinte der Schuldirektor, "das könnt ihr später nur noch schwer, Französisch habt ihr um euch herum, das lernt ihr dagegen im Handumdrehen und jederzeit im Leben!" - "Studenten, setzt euch auf den Hosenboden fürs Hebraicum, Französisch könnt ihr nachher immer noch im Ferienkurs im Land belegen", fand der Professor. Ich muss kaum erwähnen, dass ich niemals auch nur irgendeinen Kurs in der Sprache des Nachbarlandes belegte und statt Ferien zum Radikalmittel Emigration griff. Aber auch der einstige französische Ehemann änderte nichts daran, dass ich über französischer Grammatik jammerte und stöhnte, während ich die Grammatiken anderer Sprachen nicht einmal zu pauken brauchte.
Es gibt diese Szenen immer noch, wo ich nach einem Gespräch auf Französisch zu einer Deutschen sage: "Was habe ich wieder herumgestottert, ich habe wieder nicht genau das sagen können, was ich sagen wollte!" Und mein Gegenüber runzelt die Brauen, will mich so gar nicht verstehen. "Aber du hast doch fließend gesprochen?"
Irgendwie muss da aber mehr sein als das fließende Sprechen, Lesen oder Schreiben. Es fühlt sich für mich an wie ein Rollenspiel im Theater. Ich kann mit einer Rolle derart verschmelzen, dass sie mir wie auf den Leib geschneidert scheint, dass ich völlig unbewusst die richtigen Register ziehe. So wie ich das in meiner Muttersprache auch mache, wo ich arg alt aussehe, wenn mich einer nach Grammatikregeln fragt. Und dann gibt es die Rollen, die man sich erst erkämpfen muss, die einem fremd oder anders, vor allem aber unbequem erscheinen. Bei diesem Spiel schalte ich nicht ab, ich bin mir jeder einzelnen Geste, jeder mimischen Veränderung bewusst. Ich hebe nicht den Arm, weil ich in einer gewissen Situation automatisch den Arm hebe; ich hebe ihn, weil mir bewusst ist, dass ich mit dem Heben des Arms in genau dieser Situation genau jene Wirkung hervorrufe. Ich habe gelernt, wann man den Arm eher hebt oder senkt, ich fühle mich nicht frei und spontan in meinen Bewegungen.
Diese übergroße Bewusstheit, die ich natürlich nicht immer so intensiv wahrnehme, lässt ein Gefühl von Distanz entstehen. Es ist eine Distanz, in der ich mich, meine eigenen Worte und Gedanken ständig in Bezug setze, ständig am anderen vergleiche. Zuerst fiel mir auf, dass das gemeinhin hochgelobte gegenseitige Verständnis von Franzosen und Deutschen auf einer Menge von Vorurteilen und Illusionen beruht - und genau darum oft nur an der Oberfläche funktioniert. Das liegt aber schon daran, dass beide Sprachen völlig unterschiedlich funktionieren, dass die eine eher mit der Nadel zusticht und die andere eher etwas umkreist. Als Übersetzerin stehe ich da wie ein Schmetterlingsjäger, der die flüchtige Brillanz flatternder Flügel aufspießen soll, dazu aber unter keinen Umständen einen Kescher benutzen darf, sondern eine Weile mit den Schmetterlingen durch die Luft gaukeln sollte.
Inzwischen glaube ich, es ist schwieriger, auf das Naheliegende - nämlich den Kescher - zu verzichten, wenn man zu sehr mit der Aufgabe verschmilzt. Die Distanz lehrt einen Anschauung und Beurteilung von Methoden - sie schafft jedoch auch eine Distanz zur eigenen Sprache, zur eigenen Denkwelt. Muss man denn wirklich einen Schmetterling nach dem anderen auf ein Brettchen aufnadeln? Gibt es nicht noch viel mehr Methoden, den Farbnuancen und der Schönheit gerecht zu werden?
Genau hier ist ein fast magischer Punkt beim Übersetzen erreicht. Fremdsprache und Muttersprache kreuzen sich. Aus dem Kokon der Rohübersetzung können so vielfältige Texte fließen, so überraschende Schmetterlinge sich entpuppen. Es ist nie etwas eindeutig "Schwalbenschwanz", wenn es an einem besonders glühenden Rot gesessen, von einem seltenen Nektar genascht hat. In diesem Moment erreichen beide Sprachen genügend Distanz zum Übersetzer, so dass sie sich unabhängig von diesem miteinander zu unterhalten scheinen. Darum ist Übersetzen zu großen Teilen Hinhören, Lauschen, Schauen. Und darum kann vielleicht die Rolle, die man sich erst erkämpfen musste, die viel interessantere Herausforderung sein?
Oder ganz lapidar gesagt: Fast 450 Seiten stehen nun zur Überarbeitung an, keine 200 mehr sind zu übersetzen. Bergarbeiterarbeit, denn Anfang 2011 soll das Buch erscheinen.
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