Gebissen

Das Leben hat mich wieder!
Vorhin hat Emmaus den dritten LKW beladen, die "Nachlassarbeiten" neigen sich einem absehbaren Ende zu. Bei der Gelegenheit möchte ich Emmaus ausdrücklich für Wohnungsräumungen empfehlen (sofern man bereit ist, das Geräumte zu spenden). Absolut professionelle Arbeit, super freundlich, und bis auf ein Trinkgeld, das unter allen Compagnons geteilt wird, kostenlos. Emmaus kommt auch in den Grenzbereich nach Deutschland. Und was Emmaus ist und warum das so toll ist, das kann man hier nachlesen.

Für brutale Arbeit braucht der Mensch natürlich eine Belohnung. Und so habe ich mir gedacht, wenn ich mich schon die nächsten Monate wieder mit den Ballets Russes beschäftigen will, warum sich nicht einen "Feiertag" gönnen, wie die das nach harten Tourneen machten? Für den eigentlichen Ort des Entspannens reicht's leider nicht, denn dann müsste ich an den Lido von Venedig, in dieses gewisse Hotel, in dem nicht nur Luchino Visconti "Tod in Venedig" drehte, sondern auch Thomas Mann und eben auch Diaghilew und Nijinsky Urlaub machten. Aber ich habe ja ihre heimliche Oase vor der Nase, was will man mehr - sozusagen zwischen Paris und Petersburg gelegen - und da haben sie sich dann incognito getroffen und Strawinsky auf einem alten Klavier klimpern lassen.

Man kann solche Parallelen also durchaus planen. Und wenn eine Autorin so leidenschaftlich von einer Sache erfüllt ist, dann sagt die Französin "je suis mordue": "ich bin gebissen", nämlich "hin und weg" - und die Elsässerin "het sich enthusiasmiert". Das Bild mit dem Biss gefällt mir deshalb so gut, weil man dabei durchaus in seltsame Nachtwelten verrutschen kann. Mit steigender "Enthusiasmierung" nämlich steigern sich seltsame Omen.

Oder wie soll ich das erklären: Ich setze mich nach getaner Arbeit ins Auto, atme tief durch, drehe das Radio an, höre das Wort "Diaghilew", drehe lauter - und ein Ballett von Strawinsky für die Ballets Russes erklingt. Als hätte das Leben da draußen nur darauf gewartet, dass ich endlich wieder ernsthaft ans Schreiben gehe. Es war allerdings eine Sendung über die Pariser Oper, mit allerlei Gemischtem und so gar nicht über die Ballets Russes. Und dann bin ich fast zu Hause und auf einmal höre ich Klänge, von denen ich jede Note auswendig kenne. Woher nur?

Ach ja, damals, 1911, hach, wie er getanzt hat, diese Sprünge, dieses absolut "enthusiasmierte" Lächeln auf seinem Gesicht! Nijinsky. Ich kenne jeden Takt, sehe jeden Sprung, kann ihn fast fühlen und sitze mit einem völlig entrückten, leicht debilen Lächeln im Auto. Wann hatte ich je eine Eintrittskarte, um so nah schauen zu können? Hoppla... Und da macht es Ratsch! Was springt, ist der Zeitsprung oder der Sprung in meiner Birne. Ich kann Nijinsky nicht beim Tanzen gesehen haben. Es gibt nachweislich kein Filmmaterial. Und doch war ich mir in diesem Moment absolut sicher, ich war doch dabei gewesen! Hunderte Male Studium von unzähligen Fotos, immer wieder die Musik - was ist Schriftstellerphantasie doch für ein wundersames Gebilde!

Nur das Radioprogramm beeinflussen kann sie eigentlich noch nicht, oder? Genau vor meinem Eingangstor verklang das (2011) vor hundert Jahren uraufgeführte Ballett, mit dem mein Exposé eröffnet: Le Spectre de la Rose, der Rosengeist.

Eigentlich könnte ich es auf die Spitze treiben und morgen endlich meine Eintrittskarte abholen, für ein Konzert des Mariinskij Theaters unter der Leitung von Valery Gergiev, mit einem Ausschnitt aus Sergej Diaghilews erstem Pariser Programm. Aber irgendwie gruselt mir nach dem heutigen Radio-Biss. Was mache ich, wenn im Kurpark plötzlich einer "Sergej" ruft? Höre ich dann plötzlich Opern, bei denen ich unmöglich selbst dabeigewesen sein kann?

PS: Ich entschuldige wuffzig meine Menschin, die vorhin beim Hereintanzen fast auf meine Pfote getreten wäre, mir aus Versehen zweimal etwas Leckeres zur Begrüßung gab und dann nach einem fetten Heft grapschte, in dem sie schon einen Winter lang komische Notizen gekritzelt hat. "Endlich!" hat sie gejapst. Sie schreibe jetzt wieder ganztags, sagt sie mir ins Schlappohr, als ob sie jemals etwas anderes täte. Durchgeknallt wie ein Hühnerknochen, hirnerweicht wie ein Marksknochen, sag ich da nur!
Rocco, le chien

PPS (update)
Monsieur Rocco hat recht. Ich habe schon mindestens fünfmal meine Leserschaft mit solchen Beiträgen gequält. Hier kann man also live erleben, wie sich eine Autorin selbst enthusiasmiert, um es durchzuhalten, viele Monate Tag und Nacht mit immer den gleichen Leuten zu leben ...

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