Viel Lärm und nichts?
Wenn ich dann den vorzüglichen Artikel "Machen statt tweeten" von Markus Albers lese, erschrecke ich regelrecht. Gibt es solche Menschen wirklich? Die erst eine Webbewegung namens "Lifehacking" brauchen, um ins Leben zurückzufinden, für die es "kalten Entzug" am Handy gibt und die glauben, früher hätte keine Kommunikation unter Menschen stattgefunden? Wer auch nur im Geringsten gefährdet ist, sich von dieser "schönen neuen Welt" ähnlich verführen zu lassen wie unsere Elterngeneration vom Fernsehprogramm, der findet in diesem Beitrag viel Stoff zum Nachdenken.
Sehr viel vertrauter und näher ist mir die Welt, über die der Komponist Helge Burggrabe im Gespräch mit Gesine von Prittwitz redet. Das Interview unter dem Titel "Zeiten der Stille" ist insofern besonders interessant, als Burggrabe bei Stille nicht nur an Pausen, Auszeiten, Retreats oder Freiräume denkt. Hier geht es vor allem um die einem Kunstwerk immanente Stille und Ruhe, die wir oft kaum noch wahrnehmen. Musik ohne Pausenzeichen wäre wahrscheinlich unerträglich, in der Bildenden Kunst werden Leerstellen und weiße Flächen verwendet, in der Bildhauerei gibt es die Kunst des Weglassens. Burggrabe macht auf Stille und Raum in der Architektur aufmerksam, am Beispiel der Rhythmik der Kathedrale von Chartres. Auch das Schreiben ist in gewissem Sinne Komposition und bedient sich der Rhythmik der Sprache.
Noch so ein Zauber, der Büchern eigen ist. Um uns herum kann alles toben und nerven, wenn wir ein Buch verschlingen - also das Buch eigentlich uns verschlingt - atmen wir in seinem Rhythmus. Und der kann so viel langsamer sein als unsere hektische Welt. Wer erinnert sich nicht an die Hürde von etwa hundert Seiten, deren Aushalten Umberto Eco in "Der Name der Rose" von seinen Lesern abverlangt hat, damit sie umso stärker aus ihrer Welt treten und im Rhythmus des Buchs leben? Wer kann nicht mindestens drei Bücher nennen, die ihn aus Hektik und Online-Gewäsch getragen haben? So kann man nur schreiben, wenn man ein Gefühl für Zeit hat, ein Gefühl für Rhythmen und vor allem: für die Stille. Ruhe kann man nur weitergeben, wenn man sie selbst kennt.
Man kann in der Tat fürs Schreiben sehr viel aus der Musik lernen. Aus dem Theater. Aus der Geschichte sogar. Vor hundert Jahren gab es die Probleme nämlich schon einmal: Ein überaus geschwätziges Publikum ließ sich allabendlich berieseln durch Aufführungen ohne Pausen, ohne Stille. Man ging ins Variété mit seinen pausentötenden Conférenciers; man schaute sich Opern an, wo zwischen den Akten auf der Bühne Werbedarstellungen für Produkte "eingeschaltet" wurden; man bevorzugte Ballette, wo die Tänzerinnen und Tänzer unablässig in der Luft herumschnörkelten. Die Zeit war irgendwann so atemlos geworden, so technisiert und lärmend, dass die Menschen darunter litten. Fortan verherrlichten die einen den technischen Fortschritt und die Raserei, während die anderen den Untergang des Abendlandes durch die neuen Technologien vorhersagten. Das war vor etwa hundert Jahren.
Und dann kam ein Ausnahmekünstler, der die Stille zum Leben brauchte und in sich trug, der aus einer immensen innerlichen Stille schöpfen konnte. Vaslav Nijinsky hat der Welt die Stille im Ballett geschenkt:
Alles ist anders als gewohnt. Nijinsky entwickelt seinen Tanz aus der Horizontale des Erdbodens. Er lotet die Bewegungslosigkeit und Ruhe auf der Bühne aus, als wäre sie selbst ein kunstvoller Sprung.[...] Seine intensive Bewegungskraft setzt im scheinbar toten Punkt an, aus dem einfach alles entstehen kann, weil es der Moment der Stille vor der Schöpfung ist.So modern sind wir gar nicht mit unseren Zivilisationswehwehchen.Wir haben vielleicht nur manchmal verlernt, dass auch die Stille einen Ton hat, eine Bewegung, einen Rhythmus, eine Farbe - und sich damit auf alle anderen auswirkt. Und dieser Ton, diese Bewegung, dieser Rhythmus, diese Farbe sind einfach zu schön, um darauf zu verzichten.
Zitat aus: Petra van Cronenburg: Nijinsky
Lachen musste ich über "man schaute sich Opern an, wo zwischen den Akten auf der Bühne Werbedarstellungen für Produkte "eingeschaltet" wurden"
AntwortenLöschen"eingeschaltet" - da fehlen einem glatt die Worte und man bedient sich aus der Technik, oder? Süß. Mir fällt auch kein passendes Wort ein. Oder mache ich mich zum Narren und man nannte es tatsächlich "einschalten"?
Wie auch immer, ich kann Stille gut ertragen - die Natur ist eh nie wirklich still.
Das Wort habe ich gezielt und absichtlich so gesetzt, um Parallelen zu provozieren. Der Fachausdruck für diese "Werbeeinschaltungen" ist "Entr'acte", Zwischenakt.
AntwortenLöschenIch fand besonders spannend, dass dafür eben nicht nur Musik komponiert wurde, sondern dass große Opernhäuser sich tatsächlich von Firmen für Produktpräsentationen sponsern ließen. Was uns die Mainzelmännchen sind, war damals der Vorhang.
Es gibt übrigens sogar einen legendären Film für eine Pause im Ballett "Relache" (Musik: Satie, Libretto: Picabia), 1924 von René Clair gedreht: "Entr'acte". Rechts in der cronenburg-röhre zu sehen!
Ich habe es mir ja beinahe gedacht, dass es Absicht war. Nur da hatte ich den Computer schon wieder ausgeschaltet und bin ins Bett.
AntwortenLöschenManchmal kann ich nachts nicht mehr kristallklar denken :-)
Macht doch nichts - ich kann das manchmal auch am hellichten Tage nicht ;-)
AntwortenLöschenMir hilft solch ein Feedback, in einem Buch hätte ich den Stilbruch nicht begehen können...
Deshalb (Stilbruch)finde ich bloggen so angenehm befreiend :-)
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