Ich sehe was, was du nicht siehst

Knick in der Optik?

Zum ersten Mal wurde ich als Kind damit konfrontiert, als mir irgendein schlauer Erwachsener eine pralle Erdbeere vors Gesicht hielt und sagte: "Ist die nicht schön rot?" Damals wusste ich noch nicht, dass man Erwachsenen ihren Spaß lassen sollte und antwortete: "Nein, die macht scharfe, graue Spitzen in die Luft und klingt nicht tief genug." Es war meine Art zu sagen, dass dieses unreife, viel zu helle Ding nicht süß schmecken würde und das Prädikat "Rot" also nicht zuträfe. Ich hatte einen Knick in der Optik. Und lernte fortan, um die besserwissenden Erwachsenen abzuwimmeln, Farben anhand von Tönen brav zu benennen. Das nennt man Synästhesie.

Das zweite Mal staunte ich bei einem Gespräch mit zwei Freundinnen. Ich konnte nämlich partout die Farbe nicht erkennen, die mir die eine zeigte und beschrieb. Sie sah nämlich eine ganz andere als ich. Natürlich schob ich den Unterschied auf die Synästhesie, aber da passierte etwas Erstaunliches: Die andere Freundin bekam sich mit ihr in die Haare. Die sah nämlich die gleiche Farbe wie ich. Wir konnten den Streit nicht beilegen - wir sahen Grün, wo die andere Blau sah. Menschen sind eben unterschiedlich, dachte ich mir und vergaß die Sache.

Das dritte Mal passierte es unlängst bei einer Übersetzung aus dem Französischen. Es ging um die Beschreibung von Kunstwerken. Und weil Französisch eine kontextuelle Sprache ist, schaue ich mir vorsichtshalber die Gemälde genau an, bevor ich übersetze. Wenn etwa bei der Beschreibung eines Fotos zwei Menschen im Französischen etwas mit ihren Armen machen, wird das nur aus dem Kontext wirklich klar, was sie tun. Im Deutschen schreibe ich jedoch den Unterschied sehr genau fest, wenn ich sie sich in den Armen liegen lasse, sich umarmen, den Arm um die Schulter legen oder nur beieinander einhaken lasse. Plötzlich hatte ich das Problem bei Gemälden: Mein Autor sah etwas anderes als ich. Er sah nämlich Blau, wo ich eindeutig und unzweifelhaft, jenseits aller Synästhesie Grün wahrnahm. Er sah andere Farben.

Da fielen mir seltsame Dinge ein. Im Altgriechisch-Unterricht hatten wir gelernt, dass die Griechen nicht zwischen Blau und Grün unterschieden wie wir - es waren einfach die Farben des Meeres. Sahen sie die Welt vielleicht anders als wir, so wie Hunde und Bienen andere Farbwahrnehmungen haben? In Polen staunte ich über die Farbe "granatowy" (Hexcode 000080), wörtlich "granatfarben" - so heißt ein dunkles Marineblau. Ob Granatapfel oder Granat-Halbedelstein, die meisten Westler assoziieren damit eher Rottöne. Tatsächlich gibt es jedoch bläuliche Steine, die eben diesen Ton im Licht zeigen. Ist ein Granat nun blau oder rot? Wer hat den Knick in der Optik?

Ich wollte es genau wissen. Nicht nur, weil ich zufällig und nur bei Ultramarinblau ziemlich genau dasselbe höre wie Kandinsky bei einem Blauton (Synästhesisten haben seltenst die gleichen oder vergleichbare Wahrnehmungen, sondern völlig individuelle "Wahrnehmungslandkarten"). Bei den Recherchen über die Ballets Russes war ich außerdem auf eine Blau-Grün-Kombination gestoßen, die mir seit meiner Kindheit lieb war und die Anfang des 20. Jahrhunderts die Menschen in ihrer Kombination regelrecht erschreckt haben soll, bis sie zum Trend wurde. Seltsam: In slawischen Sprachen konnte ich die Farben eindeutig bezeichnen - meine französischen Freunde konnten die betreffenden Blau- und Grüntöne vom Sehen her jedoch nicht eindeutig unterscheiden. Erst als ich ihnen die alten Farbnamen sagte, die es auch im Französischen gegeben hatte. Aber man verwendet sie nicht mehr. Verschwinden mit den Farbnamen auch die Farben? Gibt es kulturelle und sprachliche Unterschiede in der Farbwahrnehmung?

Blaue Granate oder blaues Grün

Ich schaute mir die Vokabeln genauer an. Da findet man in der Tat Erstaunliches. Die Farbe "Saphir" bezeichnet im Polnischen und Russischen ein tiefes Dunkelblau, viele Menschen in westlichen Sprachsystemen assoziieren jedoch ein helleres Blau. Kommt das nur von der Herkunft der Steine, die unterschiedliche Färbungen haben können? Dagegen sieht ein Russe, wenn er "sinij" (Hexcode 0000FF) sagt, ein anderes Blau als der Pole, der von "siny" (Hexcode 8AA4B7) spricht. "Aquamarin" wiederum ist eine Farbe, bei der sich die Sprachen gar nicht einig sind: Ist es eher grün oder blau?

Aber warum sieht man in deutschsprachigen Landen fast durchweg grün, wo der Franzose ganz eindeutig ein "bleu" zuordnet? Es gibt da ein bleu canard (Entenblau, 048B9A), ein eher Türkis erscheinendes bleu de mers du sud (Südmeerblau, 00CCCB) oder die beiden Blaugrüntöne bleu paon (Pfauenblau, gemeint ist aber das, was wir grün sehen, 067790) und bleu sarcelle (Knäkentenblau, 008E8R). Das Blau, das viele von uns grün sehen würden, hat viel mit Wasser zu tun. Sieht ein Pariser Farben anders als ein Mensch, der in Nizza am Meer lebt? Warum können Menschen mit Muttersprache Russisch, wo es verschiedene Wörter für Blauabstufungen in der Helligkeit gibt, auch optisch sehr viel schneller und leichter Blautöne unterscheiden als Menschen mit Muttersprache Englisch, wo es diese Wortdifferenzierung nicht gibt?

Die blün sehenden Menschen

Bei meinen Recherchen stieß ich auf wissenschaftliche Theorien, die zeigen, dass ich mir das alles nicht nur einbildete. Forscher sprechen tatsächlich von Kulturen, die "blün" sehen, also für grüne und blaue Töne nur ein einziges Wort haben - so wie die alten Griechen. Sie stellten außerdem fest, dass manche Sprachen Farben nicht nach dem Ton, sondern nach der Helligkeit einordnen. So kommt es, dass im Altchinesischen ein Grün auch Schwarz aussehen kann.

Ganz schön kompliziert! Genauso verstiegen erscheinen einem dann auch die Erklärungstheorien. Da ist davon die Rede, dass "blün" sehende Menschen meist in den Tropen lebten und dort die UV-Strahlung die Blau-Rezeptoren im Auge zerstören würde. Wenn auch nur ein kleiner Prozentsatz der Menschen kein Blau mehr erkennen könnte, sei es unsinnig für die anderen, dafür ein Wort zu haben. Abenteuerliche These. Denn dann müssten wir weltweit die Wörter für Rot und Grün abschaffen, viele Menschen sehen diese Farben nicht. Und hatten die alten Griechen und die alten Chinesen oder Kelten etwa mehr UV-Strahlung als die Nachfahren?

Eine eingängigere These sagt, Menschen könnten nur wahrnehmen, wofür sie auch Bezeichnungen hätten. Klingt zunächst einleuchtend. Aber warum gibt es nicht für alles überall Wörter? Verändert sich unsere Wahrnehmung wirklich mit dem Dazulernen von Vokabeln? Sehen Mehrsprachler mehr Farben? Gibt es also kulturell erlernbare Farbcodes?

Oder können wir mehr sehen als wir benennen können? Warum schöpfen z.B. Schriftsteller viel mehr Wörter als Menschen, die wenig mit Sprache umgehen? Sind wir im Alltag nur nicht erfindungsreich genug? Wie aber kommt es, dass ein Wort für eine Wahrnehmung entsteht und für eine andere nicht?

Vermehren sich Wörter, wenn man sehen lernt?

Zugegeben, das sind alles ziemlich abgehobene Fragen. Im Alltag fällt auf, dass ein chinesischer, französischer oder russischer Drucker die gleichen Farbqualitäten drucken kann, weil er die entsprechenden Farbtöne (nach Pantone oder RGB und was es alles an Normen gibt) gelernt hat oder vergleichen kann. Ein Maler wird schräge Farben am ehesten mit den Pigmentnamen bezeichnen und sehr treffsicher sein - egal, aus welcher Kultur er stammt. Das könnte darauf hinweisen, dass man Farbunterscheidung und die Benennung genauso trainieren kann wie das Erkennen unterschiedlicher Duftnoten - dass es aber genauso wie bei den "Nasen" eine Art angeborenes Talent bei den "Augen" geben könnte.

So schnell wird sich das Geheimnis nicht lüften lassen. Wer aber glaubt, wirklich und tatsächlich zumindest seiner eigenen Sprache sicher zu sein, der kann Überraschungen erleben. Ich empfehle die schöne Spielerei auf der Webseite Farbnamen. Hier kann man im Experiment vergleichen, wie man selbst Farben sieht und was andere erkannten. Selbst ich habe gestaunt, wie oft ich wirklich völlig ab von der deutschsprachigen Norm liege - jedenfalls bei den Blautönen. Ich werde deshalb mit meiner Freundin nicht mehr um Farben streiten: Womöglich hat sie recht und die beiden anderen hatten den Knick in der Optik!

Anm.: Zur Unterscheidung habe ich bei einigen Farben die Hexcodes angegeben, so dass man sie auf dem Computer nachbauen kann oder in dieser Tabelle nachschauen - aber aufgepasst, Bildschirme geben je nach Einstellung Farben nicht exakt wieder.
Medienleute und Plagiatoren: Wie immer ans Urheberrecht denken. Sollte ich Teile meines Artikels irgendwo wiederfinden - und ich finde sie dank modernster Technik - kommt die Honorarrechnung ratzfatz ins Haus! Man darf mich ganz ordentlich als Journalistin buchen. (Leider sind solche Zusätze heutzutage nötig...)

4 Kommentare:

  1. Ähhh....

    Aber bei ein, zwei Sätzen als Teaser für die Verlinkung auf Deine tollen Blog-Einträge muss ich jetzt nicht gleich den Staatsanwalt fürchten, oder?

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  2. Ach was, der Spruch ist vor allem für die Qualitätspresse gedacht, die sich immer häufiger bei Blogs bedient (mir auch schon passiert), indem sie ganze Passagen in ihre Onlinezeitungen abkleistert.
    Außerdem will man ja verhindern, dass Hegemanns zweiter Roman "Blau in Kreuzberg" heißt. ;-)

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  3. Gerade gefunden! Die Wissenschaft hat wieder festgestellt....

    http://www.zeit.de/2010/15/farbe-schwarz-forschung

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  4. Jetzt weiß ich endlich, warum Tränensäcke Augenschatten machen: Die Haut bildet Nanoröhrchen! Ich sehe schon die Propagandasprüche: "Altern für den Krieg. Camouflage statt Lifting!"

    Das liest sich irgendwie wie mein Kapitel über die Suche nach der echt blauen Rose (Das Buch der Rose). Warum muss ich da immer an kleine Kinder denken, die Gott spielen wollen?

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