Die hohe Kunst der Improvisation

Zu meiner Glosse "Schrottschreiber" hat Heinrich einen Kommentar geschrieben, der mich lange hat nachdenken lassen - weniger über den Umbruch im Buchmarkt, den wir gerade "in Echtzeit" erleben, sondern über die Ängste und Lähmungen der Beteiligten.

In seinem Kommentar schreibt er über das Beispiel der Tante-Emma-Läden. Da musste ich schmunzeln, weil ich mich selbst beim Altsein ertappte. Ich habe sie nämlich nicht nur erlebt, sondern als Zeitungsvolontärin zusammen mit einem Berufsfotografen eine ausführliche Reportagenserie erarbeiten dürfen: über die letzten Tante-Emma-Läden der Auflagen-Region. Das war Journalismus, wie man ihn sich träumt. Eine Woche Zeit für einen Laden, für die persönlichen Gespräche, die Hintergrundrecherche. Zeit für Menschenschicksale, Ängste und Hoffnungen, die in diesen Fällen immer existentiell waren. Was haben wir auf diesen Reisen gelernt!

Wenn ich in diesem Zusammenhang von "Alter" spreche (das für mich immer relativ ist), dann will ich damit sagen: Ich habe schon so viele Tode gesehen. Nicht lange nach Erscheinen der Artikelserie hatten die meisten Läden für immer zugemacht. Und so manche Inhaberin fand sich als Fachverkäuferin in einem Großmarkt wieder. Irgendwann kam der Tod der zeitungseigenen Berufsfotografen dazu. Laien klickten billiger und billiger und heute stammt so manches Foto auch schon aus kostenfreien Datenbanken. Dann erlebte ich den Tod dieser Art von Journalismus in Regionalzeitungen. Kaum eines der Blätter, für die ich damals arbeitete, bezahlt noch aufwändige Recherchen oder Artikel, die man nicht in einer halben Stunde herunterrotzt. Düstere Seher prophezeien heute sogar das Ende des Printjournalimus.

Dabei haben wir "Alten" (die auch keiner mehr einstellen würde, weil zu alt) bereits eine deftige Medienkrise überlebt. Manche Spitzenleute sind Weinhändler geworden, überraschend viele sogar; andere ließen sich als Pressesprecher gut bezahlen oder gingen in PR und Werbung. Ich bin eine von denen, die sich ans Hirn langt, wenn man lachhaftes Honorar und Buy-out-Verträge für einen Text anbietet, der woanders das Vielfache einbringt. Wir haben das alles überlebt. Und zumindest im Herzen sind die meisten dieser "Abtrünnigen" immer noch Journalisten, schreiben journalistisch.

Ich glaube, wir sind heutzutage und hier im Westen unendlich verwöhnt. Wir jammern auf höchstem Niveau, machen Schulden für Häuser und Autos, bauen uns medial ein Potpourri von Ängsten auf, das selbst der Alp in Horror fliehen würde. Mit Pantoffeln an den Füßen lassen wir die Welt an uns vorüberziehen, die uns ja ach so orientierungslos macht, ach so bitter feindlich geworden sei. Anstatt uns einfach mal hineinzustürzen, ins Leben.

Ich finde, es tut gut, in solchen Momenten der Eigenlähmung still zu sein und rückwärts zu schauen. Der Mensch ist nämlich ein äußerst robustes Geziefer, vielleicht nicht ganz so geschickt wie ein Virus, aber für seine unvollkommene Art recht überlebensfähig. Sehr sogar, wenn man bedenkt, dass er sich im Gegensatz zur Tierwelt Dummheit leisten kann. Als ich ein Kind war, traf ich alte Damen, die mich vollkommen in den Bann schlugen. Sie hatten eine unerschütterliche Kraft und Gelassenheit, die ich bewunderte. Erst später ging mir auf, dass diese Frauen - zumindest durch ihre Elterngeneration - drei große Kriege (inkl. 1870er) überlebt und über drei Perioden des Wahnsinns Menschlichkeit bewahrt hatten. Und da ging mir auf, was sie den anderen voraus hatten: Sie machten aus jeder Situation das Beste. In einer für mich schier unverständlichen Art haderten sie nie mit den Umständen - sie "wurschtelten" sich durch.

Als ich in einer Zeit, in der man in Deutschland die "Faxweiche" verbreitete, nach Polen ging, erlebte ich Improvisationskunst von einer neuen Seite. An widrigen Umständen schärfte man seinen Zynismus; Satire und absurde Literatur standen in voller Blüte, nur der Alltag schien einem überall feindlich gesinnt. Betonköpfe auf Behörden, die schon unter Stalin gedient hatten, waren nur das sichtbarste Problem. Die Relativität von Problemen ging mir dagegen an einem Kulturschock auf.

Wir lebten im Haus eines privilegierten Vermieters, der eine Telefonleitung hatte. Daran hing ein billiges, quietscherotes Plastiktelefon aus der Volksrepublik China, das nur bei schönem Wetter funktionierte. Und wenn wieder einmal irgendwelche Banden aus noch ärmeren und sehr verzweifelten Ländern die Kupferkabel gestohlen hatten, um sie in Wodka einzutauschen, ging das Telefon eben gar nicht. Man lebte damit, machte Witze, dass man wieder einem einen Vollrausch des Vergessens spendiert habe, man wusste, wie man Freunde und Geschäftspartner erreicht. Vor den Telefonzellen lernte man Leute kennen, die ähnlich absurde Telefonprobleme erlebt hatten.

Nein, der Kulturschock kam erst auf einer Urlaubsreise in den Westen. Plötzlich redete dort alles von "Faxweichen" und dem Wunder, neben Ton nun plötzlich privat auch Text empfangen zu können - und wer weiß, bald vielleicht auch Bilder! Plötzlich stockten die Gespräche, weil man nicht mehr vermitteln konnte, warum ein Leben mit gestörten Telefonen ganz witzig sein kann und vor allem erfinderisch macht. Vor allem letzteres... Zurück in Polen wurde ich nämlich stolze Benutzerin eines elend schweren Apparats mit langen, stachligen Antennen, den man entweder an der Steckdose oder im Zigarettenanzünder anschließen musste. Und höllisch bewachen obendrein.

Entwickelt worden war das Ding aus womöglich amerikanischen Autotelefonen der ganz Reichen. Die Idee dahinter war einfach: wenn Leitungen geklaut werden, versieht man sich mit Telefonen ohne Kabel. Und so erlebte ich in einem Land, über dessen "Fortschritt" der Westen damals die Nase rümpfte, nicht nur die erste flächendeckende Versorgung mit Handys (viele übersprangen gleich die Phase vom Festnetz), sondern konnte mir in den wie Pilze aus dem Boden sprießenden japanischen und amerikanischen Computerläden Geräte kaufen, die meine Freunde im Westen noch nie gesehen hatten.

Was das mit dem Buchmarkt zu tun hat? Mit dem Schreiben?
Wir jammern heute endlos, wenn uns einer mal wieder das Kabel geklaut hat (ich nehme mich da nicht aus). Wir sehen uns am Ende einer fatalen Schicksalskette, die sich gegen uns verschworen zu haben scheint. Manchmal hat man ein Brett vor dem Kopf.

Anstatt sich klar zu machen, dass Verlage oder Buchhandel in der jetzigen Form sehr neue Erfindungen sind. Das Erzählen von Geschichten, das Bedürfnis nach guten Geschichten ist jedoch noch älter und stärker als die alten Damen, die drei Kriege erlebt hatten. Es ist so alt wie unsere Sprache und wahrscheinlich eine der größten kulturellen Errungenschaften menschlicher Entwicklung. Erzählen schafft Identität, macht den Menschen zu einem Ich. Erzählen ist Kommunikation, ermöglicht sozialen Austausch. Erzählen hilft beim Überleben; Erzählen kann bewahren, aber auch hinterfragen und reflektieren. Kann es Menschen geben ohne Erzählen?

Deshalb wandelt sich das Erzählen durch die Zeiten in seinen Inhalten und Formen. Zur steinzeitlichen Performance am Lagerfeuer kamen später tonnenschwere Keilschrift-Bibliotheken, Erzählungen im verschnörkelten Gänsefederduktus, mit Bildern, aus Ton, aus Schrift oder nur aus Bildern. Und wenn wir uns heute über die Sensationsgier der Medien aufregen, entspringen auch diese eigentlich der urtümlichen Begierde des Menschen, Dinge zu benennen und weiterzutratschen, um dahinter Normalität zu definieren.

Irgendwann haben wir eine Art Begierde nach Sicherheit entwickelt und unser Erzählen mit zuarbeitenden und stützenden Strukturen umgeben. Wir haben unliebsame Arbeiten ausgelagert und anderen das Risiko übertragen. Mancher wird dann von dieser Sicherheitssucht erstickt. Manchen Autoren bleibt gar das Erzählen im Halse stecken, weil sie schon vor den ersten Gedankenbildern fremde Scheren im Kopf ansetzen. Aber ich bin mir sicher, dass es auch heute wieder irgendwo eine Art "Polen" gibt, wo die Leute die Köpfe schütteln und fragen: "Warum erzählen die nicht einfach, statt zu jammern?" Vielleicht überspringt man in jenem scheinbaren Chaos wieder ein Festnetz und baut lustige Höllenapparate, weil man bis zur Erfindung des Handys mit dem Erzählen nicht aufhören will?

2 Kommentare:

  1. Liebe Petra,

    unter anderem hat mir Ihr Satz:
    Der Mensch ist nämlich ein äußerst robustes Geziefer, vielleicht nicht ganz so geschickt wie ein Virus, aber für seine unvollkommene Art recht überlebensfähig. Sehr sogar, wenn man bedenkt, dass er sich im Gegensatz zur Tierwelt Dummheit leisten kann.

    Wenn ich doch nur solche Sätze schreiben könnte, vom Rest des Textes ganz zu schweigen. Daran erkenne ich mal wieder, dass ähnliche Gedanken sogar in der gleichen Sprache eine(n) Übersetzer(in) benötigen.

    Ihre Erzählungen verschaffen einem Leser auf bildende und unterhaltsame Weise so viele Erkenntnisse und Hoffnung, dass es sogar einen Misanthropen aus seiner Höhle locken würde, und er sich an Ihr 'Lagerfeuer' setzt.

    Gruß Heinrich

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  2. Danke, lieber Heinrich.
    Dieses Kompliment hält mich heute aufrecht. Und wenn ich wieder klar denken kann, wird es mir ganz sicher die Antwort auf die Frage geben, die ich mir heute mal wieder stelle: "Warum tue ich mir das alles (das Schreiben) an?"
    Dankeschön. Petra

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