Resonanzräume

Zitat von heute Morgen: Ein mir unbekannter Walther Smith hat gemeint: "Schreiben ist nichts Besonderes. Man setzt sich einfach an die Schreibmaschine und öffnet eine Vene." Diesen Eindruck könnte man beim Briefwechsel zwischen Franz Marc und Else Lasker-Schüler (das Buch wird im vorherigen Beitrag empfohlen) auch bekommen. Zwei scheinbar in völlig konträren Welten lebende Künstler öffnen füreinander ihre Fantasiewelten und geraten in Zwischenräume, in denen Berührung jenseits aller Worte und Bilder stattfindet. Obwohl ja keiner so genau die Bilder im Kopf des anderen kennt, können sie sich folgen - und irgendetwas in diesen Zwischenräumen wirkt aufeinander, Neues entsteht. Weil beide sich ihren Träumen und Weltentwürfen hingeben, berühren sie mit ihren Schöpfungen wieder andere. Ein seltenes Geschenk, solch ein Austausch hinter den Worten und Bildern.

Und dann flatterte mir so etwas Ähnliches gestern auf den Schreibtisch in Form eines vielleicht zu rezensierenden Textes. Da ärgert sich und mich der Protagonist zunächst mit Heideggers Auffassung von der Negativität des Daseins und der Vorstellung, jenseits der Sprache könne nicht ein Raum, sondern ein Abgrund lauern. Zum Glück lässt er sich auf den Abgrund nicht ein, sondern schreibt über die beiden Hauptfiguren:
"Sie haben zueinander gesprochen nicht von zwei getrennten Positionen aus, nicht von Sprecher zur Hörerin und von Sprecherin zum Hörer, sondern miteinander sozusagen in einem Resonanzraum, der sich aufgetan hat, um ihnen beiden zu gehören." Im Folgenden schützt sich der Protagonist dann gegen diesen Gedanken, den er außerdem nur auf die Liebe bezieht.

Wenn ich mir beide Bücher nebeneinander durchdenke, frage ich mich, ob das, was dieser einen "Liebesmoment" nennt, nicht eins der großen Geheimnisse berührender Literatur (und aller Künste?) ist: Diese "Resonanzräume" schaffen zu können, in denen sich zuvor wildfremd scheinende Seelen aus unterschiedlichen Welten austauschen können. Irgendetwas in einem Buch aus der Welt hinter der Welt des Autors berührt den Leser, er lässt sich an die Hand nehmen, übertritt eine unsichtbare Grenze - und kommuniziert. Lässt sich so der seltsame Effekt erklären, dass einem das eigene Buch nach der Veröffentlichung entgleitet, um sich in ständig neue Bücher der Leser zu verwandeln?

Vielleicht lässt sich so auch die Wirkung besonders fordernder, unvergesslich bleibender Literatur erahnen? Da gibt es keine festen, behaglichen Kategorienkämmerchen, in die man mit der Lektüre sicheren Tritts eindringt, und die man mit dem Zuschlagen des Buchs wie mit dem Umlegen eines Schalters relativ unbehelligt wieder verlassen kann. In jener Literatur können sich die Resonanzräume unverhofft und überall auftun, manchmal auch wie ein Abgrund ins Eigene, dann wieder als Öffnung ins Unbekannte - und schließlich kann plötzlich alles in jener Bücherwelt und draußen hinterlegt sein mit jenem Dazwischen.

Ich glaube nicht, dass es einfach reicht, für seine Leser zu verbluten - davon haben beide Seiten kein Leben. Diese Räume offen halten zu können, dem anderen öffnen zu können, eben nicht nur in der Liebe (der Schriftsteller schlägt sich ja weiß Gott mit allem anderen auch herum) - ist es das?

4 Kommentare:

  1. Sabine Kanzer2/10/09 09:19

    Hallo Petra,

    das, was Du beschreibst, gilt für Literatur? Ich meine, es gilt für jedes Buch, auch für Sachliteratur. Mein Lieblingssachbuch, das auf mich die von Dir beschriebene Wirkung hat, ist von Peter Kruse und heißt "Next practiice - Erfolgreiches Management von Instabilität". Ich nehme es zur Hand, wenn mir zu einem Thema, das ich bearbeiten soll, nichts mehr einfällt - immer (!!!) mit einem Stift in der Hand und einem leeren Blatt Papier daneben, um die Assoziationen gleich notieren zu können, die mir beim Lesen durch den Kopf schießen. Bilder, Verknüpfungen von Fakten, die ich so bisher nicht gesehen habe, Ideen...es ist,als ob man einen kompetenten Gesprächspartner vor sich hat. Dass das trotz Fachbuch Spaß macht....muss ich das betonen?

    Ist es das, was Du meinst mit "Resonanzräumen"?

    Sabine

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  2. Hallo Sabine,

    ich habe jetzt einfach frisch von der Leber weg über das geschrieben, was ich kenne. Habe bewusst nicht alle Bücher eingeschlossen, weil es welche gibt, die mir nur den Alltag verblümeln wollen und wo gar nichts in der Art stattfindet (stattfinden muss). Da ist der "Dialog" eher ein Monolog mit Regieanweisung ;-)

    Was du jetzt schreibst, lässt mich nachdenken. "Fakten, die ich bisher so nicht gesehen habe" - das erscheint mir der wichtigste Punkt. Ja, du hast Recht, ein gutes Fach- oder Sachbuch kann einem so die Welt weiten. Und ich diskutiere da in Gedanken auch oft mit dem Autor. Stimmt.

    Ich erlebe so etwas oft bei intensiven Sachbuchrecherchen. Ich habe mir z.B. immer wieder jedes nur erreichbare Foto von Nijinsky angeschaut: Was hat er für einen Mund, wie blickt er, was mag er da empfinden, wie sehe ich ihn, wie hätten ihn die Zeitgenossen sehen können? Irgendwann las ich, dass es vom tanzenden Nijinsky keinerlei Filme gibt. Ich langte mir an den Kopf: Aber ich hatte ihn doch tanzen gesehen!
    So kann ich mir vorstellen, sieht man vielleicht nach einem guten Fachbuch Fallbeispiele oder den eigenen Fall absolut lebendig sich abspulen?

    Trotzdem glaube ich, die künstlerischen "Resonanzräume" gehen noch weiter, da sind oft keine Fakten mehr, man kann wild erfinden. Und sie verändern sich ständig. Else Lasker-Schüler hat sich z.B. als "Prinz Yussuf" in einem Fantasiereich namens Theben inszeniert - und der eher bodenständige Franz Marc konnte ihr dahin folgen und schenkte ihr seine Tierwelten.

    Als Leser und Betrachter dringe ich in diese Zweisamkeit ein, verstehe vieles sicher nicht, dann beginnen hinter der Realität der beiden Personen die Bilder mit mir zu reden. Und jetzt wird es schwierig, auszudrücken, was ich meine: Die Antworten finde ich oft in dem, was NICHT gesagt wird, zwischen den Zeilen. Das ist in etwa so, wie wenn zwei vertraute Menschen miteinander schweigen und genau wissen, was der andere denken mag. Das funktioniert aber nur, wenn ich auch etwas hineingebe in diesen "Raum".

    Ganz irdisch gesagt ist das übrigens ein Unterscheidungsmerkmal für Literatur von anderer Belletristik: Es gibt mehrere Ebenen und immer auch einen Subtext.

    Ich kann's wohl deshalb so schlecht beschreiben, weil ich selbst es nicht ganz erfassen kann. Ganz selten, bei Lesungen, gibt es so einen magischen Moment, wo LeserInnen dir ihre Innenwelten bzgl. des Buchs öffnen. Faszinierend wird das, wenn es einem gelingt, von sich selbst zu abstrahieren und nicht gleich abzutöten mit Aussagen wie: "Und, wie fanden Sie's?" oder "Ich hab mir die Figur aber ganz anders vorgestellt!"

    Danke für die interessanten Denkanstöße!
    Petra

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  3. Sabine Kanzler2/10/09 10:36

    Hallo Petra,

    aus meinem Bereich fällt mir gerade kein griffiges Beispiel ein, wie diese Resonanz funktioniert. Aber ein etwas albernes und eigentlich banales von einer Freundin, die ihr erstes Kind bekommen hatte und dabei war, Leben und Kind und Arbeiten und alles andere neu zu sortieren. Der habe ich das Buch geschenkt und die Rückmeldung? "Spannend, Sabine, beim Lesen sind mir ganz viele Gedanken zu meiner jetzigen Situation gekommen. Ich habe Impulse gekriegt, wie ich zum Beispiel die Kinderbetreuung organisieren kann - obwohl das Thema ja eigentlich Unternehmensführung ist."

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  4. Na wenn das kein griffiges Beispiel ist!
    Petra

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