Untergrundarbeit

Wenn jemals die Kultur des Abendlandes untergehen sollte, ist das gestern abend in einem nordelsässischen Städtchen passiert. Der Tag war ideal: Schulfreier Mittwoch, traditionell Ausgehtag, Theaterfestival - diesmal die Aufführung im feinen, vor noch nicht allzu langer Zeit erbauten "Kultur- und Theaterzentrum", das beworben wird, als sei es der Nabel der Welt. Menschen aus der Region zeigen in einer szenischen Lesung mit Multimedia-Einspielungen "Frontières - Grenzen". Sie stehen zum 14. Mal auf der Bühne, hatten sogar schon in Strasbourg einen vollen Saal. Der Eintritt ist frei, soll keiner sagen können, er hätte sich das Theater nicht leisten können.

Ich schaue mich um und weiß, wie schrecklich es ist, vor so einem Haus zu spielen. Steil ansteigende rote Plüschsessel wie im Kino, viel zu viele, viel zu viele leer. Nur mit Mühe gelingt es mir, Menschen zu entdecken, die nicht irgendwie mit der Truppe, dem Haus oder dem Stück in irgendeiner Weise verbandelt sind oder Freunde von Freunden. Die beiden Teenager sitzen im Publikum, die Musik ihrer Band für das Video beigesteuert haben. Allein. Und nach der Aufführung habe ich in dieser Leere das Gefühl, ich hätte meinen eigenen Applaus heraushören können.

Nun kann man natürlich trösten und sagen, der Tag sei wohl ungünstig gewählt gewesen, die Uhrzeit womöglich falsch, die Ankündigungen in der Zeitung zu winzig, die Nacht zu warm und sehr wahrscheinlich lief wieder Fußball im Fernsehen. Der Kulturkiller Nr. 1 (nie wieder Lesungen während einer Weltmeisterschaft). Aber das habe ich von eigenen Auftritten gelernt: Der Zeitpunkt ist nie günstig. Entweder kommen viele Leute oder es kommen keine, man kann das nicht mehr berechnen, nicht einmal mehr die großen Theater können das.

Tant pis, könnte ich sagen, was soll's. Doch leider ist das kein Einzelfall im Nordelsass. "Witzle g'macht" und Mundart füllen die Hallen und wenn man sich dabei auch noch den fettigen Schweinsbraten dazustopfen kann, ist es brechend voll. Kunst und Kultur, "echtes" Theater gar, womöglich mit "echten" Schauspielern, "Ziginer", die aus der Großstadt kommen - dagegen hegt man Ressentiments und zwar nicht wenige. Die gehören nicht her, wer weiß, mit welchen Denkviren und Revolutionbakterien sie das beschauliche, geregelte Leben aufmischen könnten!

Bei Auftritten in Deutschland werde ich oft von Leserinnen und Lesern gefragt, ob mein Buch "Elsass. Wo der Zander am liebsten im Riesling schwimmt" (Hörbuch) nach mehreren Jahren eigentlich noch aktuell sei. Ja, kann ich beruhigen, da ich keinerlei kurzlebige Trends wie angesagte Restaurants oder Hotels nenne. Ja, es hat sich seither nichts verändert. Dieses Buch wird auch in zehn Jahren noch keinerlei Überarbeitung benötigen, allenfalls wird es für Einheimische zum Geschichtsbuch werden, weil sie die eigenen Rezepte nicht mehr kochen können und die Traditionen von den Touristen oder im Ecomusée rückerlernen. Oder aus solchen Büchern.

Aber ist das Elsass wirklich so paradiesisch und reich, wie Sie das stellenweise beschreiben, fragt manchmal jemand mutig. Oft widersprechen ihm fleißige Elsassurlauber sofort. Nirgendwo sonst würde man so herzlich aufgenommen, könne in so hoher Lebensqualität genießen. Ich werde in solchen Momenten still. Und muss dann zugeben, dass es ein Elsass gibt, das der Tourist kaum wahrnehmen kann, weil die Imageberater und Werbeblätter fürs Land ganze Arbeit leisten. Manchmal nämlich ist es ein wenig wie sein eigenes Disneyland geworden. Eine niedliche Geranienwelt nach außen, hinter deren Fachwerkfassaden sich Nachbarn immer noch erbittert des Nachts die Grenzsteine versetzen und der Religionskrieg tobt.

Die dunkle Seite des Elsass, die vor allem Künstler und Kulturschaffende zu spüren bekommen, die nicht das Glück haben, in der Metropole agieren zu können - die wollte kein Tourist präsentiert bekommen, die würde kein Verlag der Welt kaufen. Es sei denn, man schriebe so etwas mit Humor. So schlimm könne es ja schließlich nicht sein. Nein, ganz so schlimm ist es nicht, sofern es einem gelingt, die anderen Verrückten irgendwie kennenzulernen. Die Menschen auf und hinter den Bühnen, die Menschen mit Bildern, Skulpturen, mit Musik oder Büchern. Dann fallen Worte wie "intellektuell ausgehungert", dann kommen die ganzen Horrorgeschichten hoch. Etwa von der Künstlerin, deren Ausstellung von einem ganzen Ort geschnitten wurde, nur weil sie sich erdreistete, mit einem Kollegen aus Paris zusammenzuarbeiten. Diesem Sündenpfuhl verabscheuungswürdiger Intellektueller. Ziginer.

Und dann muss ich erzählen, warum ich nie eine Lesung meines Buchs auf elsässischer Seite hatte, warum man es immer noch auf der pfälzischen Seite kaufen geht, obwohl der Verlag es dem elsässischen Buchhändler wirklich leicht gemacht hat. Ich erzähle dann von einem Lizenzgespräch, bei dem der Verlag links vom Rhein zum Verlag rechts vom Rhein gesagt haben soll: "Wir lassen uns doch das Elsass nicht von einer Deutschen erklären." Nie nenne ich Namen, aber zielsicher und genau wissen meine elsässischen Bekannten sofort, wer das gewesen ist. Und trösten mich, dass solches, wie ich es schreibe, wohl eher etwas für Paris sei.

Immer wieder verliere ich Bekannte, die diese Kulturfeindlichkeit nicht mehr aushalten, an die großen Städte. Auch die Lesetruppe auf der Bühne ist durch Umzüge geschrumpft. In solchen Momenten träume ich von der Emigration aus der Emigration. Von quirligen, kulturell und künstlerisch umtriebigen Großstädten, in denen ich es doch nicht aushalten würde. Es muss doch irgendwo auf der Welt noch ein Land geben, in dem Künstler nicht wie Feinde angesehen werden? Es muss doch noch irgendwo auf der Welt noch Menschen geben, die Kultur wertschätzen können?

Auf der Heimfahrt sehe ich, wo all die Menschen abgeblieben waren. Hinter Gardinen und Fensterläden flimmern die Flachbildschirme. Das Abendland verröchelt auf dem Sofa. Und ich fahre in die Idylle aus Wäldern mit knackenden Esskastanien, zu den Wiesen, die im Frühjahr voller Orchideen stehen. Wo man zu leben weiß, immer einen guten Wein hat und für die Touristen alte Bräuche mimt, deren Inhalt man selbst längst nicht mehr kennt. Noch einmal verschiebe ich die Flucht und denke an noch stärkeres Vernetzen unter den Verrückten, den Ausgestoßenen. Zum Beispiel in diesem Theaterverein, der sich zum Ziel gesetzt hat, Theater aufs Land zu bringen und Landbewohner auch einmal in die Stadt.

Eigentlich lebt man hier als Kulturschaffender ideale Voraussetzungen. Man ist sich jeden Tag bewusst, wie die Welt ohne Kunst aussehen würde. Man kann sich lebhaft vorstellen, was daraus wird, wenn Menschen nur noch dafür malochen, ein schmuckes Haus, Kinder, ein großes Auto, einen winzigen Baum und einen gefegten Rinnstein in die Welt setzen zu können. Von Materialismus war in dem Stück die Rede. Von engsten Grenzen ums eigene Ich innerhalb der eigenen vier Wände. Fernsehen als Guckloch zur Welt.

Wir machen weiter. Weil wir wissen, dass irgendwo da draußen Menschen sind, die genauso wie wir dürsten. Menschen, die nach dem Reichtum streben, den ihnen Theater und Ausstellungen geben können, Konzerte, Lesungen und Kulturveranstaltungen. Und wenn wir nur drei Leute begeistern können, ist das in solch einem Landstrich wertvoller als zehn dauergelangweilte Zufallsgäste in Paris oder Berlin. Oder mache ich mir da etwas vor?

Schleichwerbung:
Der Verein Sur les sentiers du théâtre bietet auch genug Theater-Programm für Deutschsprachige, die des Französischen nicht so mächtig sind - einfach mal reinschnuppern! Und die szenische Lesung, von der ich hier erzähle, kommt im nächsten Jahr wieder nach Deutschland. In diesem Jahr gibt es das dreisprachige "Frontières - Grenzen" noch einmal am 7. Nov. im der Mehrzweckhalle von Schaffhouse, 20 Uhr, und am 6. Dezember um 18 Uhr in der Salle Communale von Hoffen.

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