Sprache zwischen allen Stühlen

"Die Heimat ist eine Sprache" sagt Thomas Roeder im "Zwischenleben"-Blog und denkt über sein Verhältnis zur Sprache und zum Schreiben nach. Spannend, das will ich auch, dachte ich - und beneide ihn fast ein wenig um seine Eindeutigkeiten. Wenn man mich fragen würde, was meine Heimat ist, würde ich wahrscheinlich "mein Kopf" sagen. Weil ich nach drei "gelebten" Ländern zwischen allen Stühlen sitze, nirgends mehr richtig daheim bin und deshalb überall.

Mich packt zeitweise eine unendliche Sehnsucht nach Polen. Und in Polen kann es vorkommen, dass ich sofort nach Frankreich möchte. Nach meinem Geburtsland Deutschland habe ich kaum Sehnsucht. Vielleicht, weil ich nur die Grenze vor der Haustür überschreiten muss und in Sachen Gefühlsumgang eher südliche oder slawische Varianten bevorzuge? Ich spreche täglich drei Sprachen quer, so wie es die Elsässer auch tun: Wir wechseln munter hin und her, manchmal in einem einzigen Satz. Obiger Beitrag hat mich veranlasst, darüber nachzudenken, ob und wie sehr ich über meine Muttersprache Deutsch eigentlich wahrnehme, empfinde und denke.

Nicht einfach zu beantworten. Laut Erwachsenenberichten habe ich mich lange vor der Schulzeit intensiv mit den kanadischen Nachbarskindern unterhalten, die nachweislich nur kanadisches Englisch sprachen. Mit meiner anderen Nachbarsfreundin äffte ich lauthals die Sprache der Franzosen in der Stadt nach, was so ähnlich geklungen haben muss wie "türütütüh" und meiner Mutter die Schamesröte ins Gesicht getrieben hat, weil sie zwei "Ausländerkinder" im Schlepptau hatte. Ich fand alte Leute spannend, entdeckte mit einer uralten Gouvernante (nein, nicht meine), die im 19. Jahrhundert geboren war, die bunte Welt zu Zeiten der Titanic und sog begierig Erzählungen von Menschen ein, die drei Kriege erlebt hatten und mindestens so viele Länder.

Meine Mythen und Märchen kamen zwar auch von den Gebrüdern Grimm, aber meine Kinderbücher waren ausnahmlos russische oder tschechische in Übersetzung. Ich bin groß geworden mit Väterchen Frost und Mischka dem Bären, und nenne meinen Hund mit Kosenamen Bobik, weil alle wunderbaren Hündchen dieser Welt eben Bobik heißen (russisch etwa wie das deutsche "Fiffi", streng übersetzt "Böhnchen") . Hat mir das irgendwie geschadet? Fehlt mir dadurch irgendein Zugang zu den eigenen Wurzeln?

Zum Glück nicht. Die wahren Märchen und Mythen sind ohnehin universell. Und meine Vorfahren waren wie so viele in Europa, bevor der Wahnsinn der Weltkriege Kulturvielfalt zerstörte. Bunter Mischmasch, manchmal wechselten sogar die Nationen ihre Nation, in der sie lebten. Und wenn sie wo nicht mehr leben konnten, nahmen sie Wurzeln und Koffer in die Hand, lernten neue Sprachen, überlieferten alte, die der Rest der Verwandtschaft schon nicht mehr verstand. Emigrantenmenschen. Wanderer zwischen den Welten. Irgendwann zu bunt, um sich in einer einzigen Farbe heimisch zu fühlen. Immer zu bunt, um bei einer einzigen Farbe nicht aufzufallen. Und immer dieser Koffer im Kopf, diese Sehnsucht, man könne etwas verpasst oder verlassen haben, was anderen Menschen eine Sicherheit gibt. Aber es gibt kein Zurück.

Es gibt auch sprachlich kein Zurück in die einfarbige vermeintliche Sicherheit. Wirklich ausdrücken kann ich mich schriftstellerisch nur in meiner Muttersprache Deutsch, weil ich über 40 Jahre gebraucht habe, sie einigermaßen beherrschen zu lernen. Beherrschen im Sinne von: Ich bin die Sprachgestalterin. Ich habe vier Jahre lang Artikel auf Polnisch und Englisch verfasst, erstere leider sogar für die Regenbogenpresse. Das entsprach meinem damaligen Sprachniveau. Und trotzdem fühlte ich mich wie amputiert, denn das war nicht die Art von Texten, die ich auf dem Herzen hatte. Und ich war nicht unabhängig, ich arbeitete mit Korrektorin.

Trotzdem brauche ich heute die Fremdsprachen, damit mein Deutsch sich "komplett" anfühlt und mir entspricht. Ein Teil meiner selbst lebt in diesen Sprachen, ich träume sie. Als ich innerhalb von drei Monaten fließend Polnisch lernte, hielten das alle für ein Wunder. Ich meinte, ich hätte nur meine Oma nachgemacht. Nie hat sie Polnisch gesprochen, aber ihr Deutsch war so verquer, dass die Eltern davor warnten, das "Rückwärtsgespreche" nachzumachen. Ich habe ihren Satzbau dann im Polnischen nachgemacht und mir ist die Grammatik zugeflogen. Diese Sprache ist wie kaum eine andere für mich Klang und Poesie. Ich spüre jeden einzelnen Buchstaben, jede Klangfarbe. Die Musik dieser Sprache wurde so intensiv, dass ich Lyrik schrieb. Gedichte, die ich auf Deutsch nicht wagen würde und die ich nicht übersetzen kann. Wollte ich spontan Gefühle ausdrücken, ist Polnisch die Sprache, die meinem Inneren am nächsten kommt. Meine Rhythmik, mein Klang hat sich seither auch im Deutschen verändert.

Der Kampf mit dem Französischen dagegen war intensiv und lang. Ich kann es heute nach bald zwanzig Jahren zwar fließend sprechen, sogar übersetzen - aber nur fehlerhaft schreiben, in einer sehr "englisch-deutschen" Struktur. Seine kreisenden, indirekten Bewegungen sind nicht die meinen, weil ich mein Herz auf der Zunge trage. Die sprachlichen Abgrenzungen gegen andere Schichten, Gruppen, Altersstufen sind mir vom Gemüt her fremd. Und trotzdem brauche ich seine Eleganz, seine Vielschichtigkeit der Wahrnehmungen und reflektierten Emotionen. Wenn der polnische Rausch verklungen ist, philosophiert das Französische, bevor es ins Deutsche erkaltet, wo ich meißeln und schaben kann...

Und das ist mittlerweile auch notwendig. Am Endprodukt erkennt es niemand, aber ich ringe mir mein Deutsch manchmal mit viel Schweiß ab. Übersetze mich mühsam selbst. Vermisse Ausdrucksmöglichkeiten, weil die Welt meiner Wahrnehmungen und Ausdrücke um so viel größer geworden ist. Wenn ich einen deutschen Text schreibe, habe ich Wörterbücher neben mir liegen. Manchmal muss ich schmunzeln, wenn ich meine dahingeschmierten Entwürfe für ein neues Projekt lese. Ich bin dann plötzlich enthousiasmée über das zycie meiner Figuren. Beharre darauf, dass nur wedrowac (mir fehlen hier gewisse Akzente und Buchstaben) eine Bewegung wiedergibt und sonst nichts. Wie übertrage ich das, was ich selbst wahrnehme und fühle?

Ich spreche übrigens auch so. Außer den Binnenfranzosen und Touristen sprechen hier alle so. Wir reden wildes "Europlais" und egal, welche Sprache gerade dran ist, man versteht sich und antwortet in der bequemsten. In Rastatt auf dem Markt ist es mir passiert, dass ich spontan einer Frau mit einer Auskunft geholfen habe. Es war so normal. Erst, als sie mich fragte, aus welcher Stadt in Polen ich käme, bemerkte ich, dass ich nicht Deutsch gesprochen hatte. Manchmal schauen mich meine Gesprächspartner auch ratlos an. Das Zeichen, aufzupassen und schleunigst die Sprache zu wechseln. Nicht in die, die am besten ausdrückt, was ich sagen will, sondern in die, die mein Gegenüber versteht.

Sicher hat sich mein Deutsch gehörig verändert. Ob es dadurch verständlicher wird, kann ich selbst nicht beurteilen. Wie jedem Emigranten fehlt mir moderne gesprochene Sprache, fehlen mir Jugendsprachen und Modewörter. Neue Wörter muss ich wie in der Schule lernen. Meine Sprache verschriftlicht. Ich schnitze manchmal sehr lange an einem Ausdruck, bis er hoffentlich wirklich das ausdrückt, was ich empfinde. Aber ich werde von Menschen gelesen, die mit diesem Ausdruck wieder ganz eigene und andere Wahrnehmungen und Empfindungen verbinden. Ich bin in meinem Kopf beheimatet und andere in dem ihren. Wir sprechen miteinander über Kopfgrenzen hinweg. Vielleicht aber macht gerade das achtsam, wenn man auch in der eigenen Muttersprache Ausländer ist?

2 Kommentare:

  1. Hallo Petra,

    Sprache ist in jedem Sprecher dieser Sprache lebendig und offen für andere Einflüsse.
    Bei mir ist es die Musik. Denn alle meine Texte sind heute ganz genau auf ihren Ton, auf ihren Klang, auf Pausen, Vibrato und ähnliches komponiert.
    Dazu kommt meine innige Liebe zum Englischen, was ich wunderbar sprechen kann, und dem Französischen, was ich nur hören und lesen kann- und genießen.
    Beides hat meine Wahrnehmung der eigenen Sprache verändert, und meinen Weg diese zu sehen, mit ihr zu arbeiten- und die Arbeit selber.
    Denn ich schreibe manchmal in Deutsch etwas Englisch aus meinem Manchester/Nordengland-Dialekt nach, oder etwas in leichten Klang des Französischen.

    Und ja, ich überprüfe meine Sprache ständig, weil ich mich im Deutschen auch etwas Fremd fühle, manchmal zumindest. Denn ich misstraue vielen Aussagemöglichkeiten im Deutschen und versuche andere und manchmal neue Wege zu finden.

    Ich würde es deshalb als Vorteil sehen, ein wenig Fremd in der eigenen Sprache zu sein, weil es einen dazu bringt sich und die eigene Sprache zu hinterfragen, nach Wegen zu suchen.
    Das bedeutet nicht, dass sie nicht mein Heim ist, sondern nur das ich ihr wie Klemperer versuche vieles abzuringen.

    Gruss

    Thomas

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  2. Hallo Thomas,
    du hast Recht, man sollte Sprache nicht als geschlossenes System betrachten. Ich kenne auch keinen Künstler, der sich nicht durch eine andere Kunst beeinflussen ließe.

    Diese Distanzfähigkeit, die du beschreibst - ist das nicht eine Grundvoraussetzung unseres "Handwerks" - und das nicht nur bei der Sprache?

    Schöne Grüße,
    Petra

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