Rausch, Entfesselung, Ekstase

Geordnete Persönlichkeiten, die den Krawattenknoten gleichsam als Verstandesverschluss direkt unter dem Kinn tragen, halten Künstler gern mal für verrückt. Auch wenn heutzutage in der Maltherapie kaum noch echte Kunst entsteht, wie etwa zu Zeiten Prinzhorns, auch wenn heute immer weniger Künstler in geschlossene Abteilungen weggesperrt werden - die paar, die irgendetwas "erwischte", sorgen dann schon fürs Image des durchgeknallten Kreativmonsters. Und dann sind wir ja auch noch selbst schuld, tragen seelische Innereien auf den virtuellen Marktplatz, die wir früher nicht einmal dem Herrn Freud auf dem Sofa gestanden hätten. (Notiz: Der wiederum hat einem gewissen Herrn Mahler die ausführliche Analyse verweigert, mit der Begründung, nachher könne der nicht mehr komponieren).

Eigentlich schön, dass man heute offen über alles reden kann und daraufhin nur noch von Tante Erna und den sieben Siebeng'scheiten schräg angeschaut wird. Die seltsam anderen Zustände der Kreativität, Häufungen von Linkshändigkeit oder Synästhesie - das alles ist längst ein Lutschbonbon für die Bewusstseinsforscher, denen ich schon früher gern zugerufen hätte: Ihr könntet das auch. Aber ihr habt's verschüttet. Manchmal muss man nur den engen Krawattenknoten lockern...

Es macht Spaß, anders zu ticken, wenn draußen der Novemberregen rieselt. Wenn ich mir z.B. schon drei Mal Tante Ernas Gestöhne über ihre Schlaflosigkeit angehört habe, wobei sie mir akribisch aufzählt, wie oft sie mit welchem Ergebnis nachts zur Toilette ginge, worauf ihr Onkel Ernst eine Vorlesung über Kürbiskerne und Frauen in den Wechseljahren hält, und beide mahnen, mein Nachteulengehabe würde sich im Alter böse rächen, und ich sollte vielleicht auch öfter mal zum Arzt, denn sie gingen regelmäßig auch ohne Schlafstörungen ... tja dann ist die Welt einfach wieder in Ordnung, wenn ich lese, wie glücklich Kollegen über Schlafstörungen sein können!

Da finde ich mich wieder, fühle mit. Obwohl ich derzeit wirklich hundemüde gegen fünf Uhr morgens ins Bett falle, auf der Stelle einschlafe, wild träume und um neun Uhr hellwach an die Lektüre dränge. Mich hat's auch grad. Ich lese drei Bücher quer und ein viertes über einen anderen dazu und trinke seit vorhin russischen Tee. Das ist insofern bedenklich, als ich leidenschaftliche Kaffeetrinkerin bin. Ich giere obendrein nach Musik und Film zum Thema und habe plötzlich einen ganz eigenartigen Faible für schräge Samtklamotten, die ich mir wie in Trance im Second Hand Laden kaufe. Abends vergesse ich, dass ich Cocteau nicht mehr anrufen kann, und morgens, dass die Madeleines nicht von Proust kommen. Aber das ist auch egal, weil ich mich sowieso nicht mehr erinnern kann, in welchem Jahrhundert ich lebe.

Ich bin ein Schwamm mit tausend Sinnen. Sauge Stoff, trinke Briefe, fresse Tagebücher, streichle Fotos, goutiere Schätze aus den tiefsten Tiefen des Recherchiversums. Die Zeit ist bordeauxrot und klingt tief, meine Freundin meint, ich sähe aus wie Oper, und dann fällt ihr ein, dass sie in ihrem Bücherschrank noch das ultimative Buch für mich hat, das ich in den Atempausen zwischen den anderen anlese. Ich arbeite fiebrig, ohne Temperatur zu haben, renne mit debilem, entrückten Lächeln zum Bäcker und gäbe etwas darum, wenn mein Hund mich bekochte.

Diesen Monat will ich unbedingt zum Dostojewski-Abend im Baden-Badener Casino. Ich habe ein wenig Angst, dass ich dort, wo "Der Spieler" entstand, plötzlich einem verstaubten Herrn gegenüber stehen könnte, der sich mit Fjodor vorstellt. Angst, dass ich Dostojewski die Zeitreise prompt abnehmen würde...

Es ist ein seltsames Schweben, ein Highsein, wenn einen ein Thema beißt, wenn der Stoff anfängt, sich selbstständig zu machen. Und dann ist es Zeit, zu ver-rücken, um all die Ideen nicht zu überhören. Diese Momente der Ekstase sind das Schöne an diesem Beruf - und man muss sich das Gefühl ein wenig konservieren für die brutalen Durststrecken. Für die Tage, wo auch eiserne Disziplin und Selbstmotivation kaum helfen wollen. An denen besuche ich dann Tante Erna. Wenn ich meine Wehwehchen habe, kann sie nämlich besser von ihren erzählen, bei einem Kuchen als Medizin.

2 Kommentare:

  1. Ja, und dann "kotzt man Tinte".
    ;-)

    Andere Leute müssen ein Heidengeld für illegale Substanzen ausgeben, um wenigstens zu glauben, sie wären in diesem Zustand, kommt er von selbst, ist es ein anstrengendes Geschenk.

    Tipp:
    Wenn sich wer wundert, einfach reagieren: "Nicht hauen, ich bin Kulturschaffende!"

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  2. Im Moment frage ich mich, ob es nicht gesünder wäre, Methyalkohol zu trinken (liebe Kinderlein, macht das ja nicht!) - denn nach jedem dieser Schreib- und Leserauschzustände finde ich mich beim Optiker wieder... das geht irgendwie auf die Augen...

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