Was einem so fehlt

Schriftsteller und Übersetzer liegen im Frühling auf der Blumenwiese, im Sommer am Pool, im Herbst unterm Tisch in der Winzerstube und im Winter auf dem Eisbärenfell vor dem Kamin. So ähnlich stellen sich viele Menschen das faule Künstlerleben der Buchschaffenden vor. Vor allem solche, die mich ernsthaft immer wieder fragen: "Was machst du eigentlich den ganzen Tag, du schreibst doch nur?" Irgend etwas mache ich offensichtlich gründlich falsch (und eine Menge Kolleginnen und Kollegen ebenfalls).

Das Katastrophenjahr 2010 setzt in meiner aktiven Erinnerung mit Schneeregen aus. An meinem letzten Tag, an dem ich vorsätzlich beschließen konnte, zu Hause zu bleiben und nichts zu tun, gab es heftigen Schneeregen. Und dann rauschten Frühling und Sommer nur so an mir vorbei und jetzt wäre ich eigentlich bereit für einen schönen Herbst. Also habe ich mich heute förmlich herausgequält in diesig-grauer Düsternis und bin auf den Bergkamm zugefahren, den man vor lauter Schleiern auch am Mittag noch nicht sehen konnte. Im Elsass hatten wir bei sechs Grad diese Art Wetter, die selbst mein winterharter Hund nicht schätzt. Aber es hat sich gelohnt: Im zweiten Gebirge scheinte die Sonne!

Etwa 33 Kilometer bin ich für ein duftendes, frisches Brot gefahren. Natürlich verbinde ich ein solches Luxusbrot mit einer gesamten Route voller Genüsse; dem Bauern mit Kürbissen und neuem Wein, dem Grossisten für Hundefutter, dem Bauern mit frischem Gemüse und eben all dem, was man in Frankreich nicht mehr so bekommt. Es ist schon komisch - immer noch fallen am Wochenende und an Feiertagen deutsche Touristen in unsere Supermärkte ein, aber sie kommen von immer weiter her und seltener. Die an der Grenze wohnen, kennen die Misere. Frankreich im Alltag ist ein Land von Mikrowelle und Convenience Food geworden. In den Schulen gibt es für die Kinder Schmeckkurse, weil sie keine Natur mehr wahrnehmen können. Und von all dem panierten Mist mit künstlichen Füllungen in den Kühltruhen kann einem der Appetit langsam vergehen.

Das ist auch besser so. Denn mir ist es ein Rätsel, wie sich Franzosen mit Durchschnittsgehältern überhaupt noch etwas zu Essen leisten können. Wer kann, fährt nach Deutschland und ernährt sich für etwa ein Drittel des Preises (Supermarkt, Bauer ist noch billiger) frischer, vielfältiger und gesünder. Dumm ist nur, dass man die Zeit zum Herumfahren nicht immer hat - jedenfalls nicht, wenn man schreibt oder übersetzt und an Terminarbeiten sitzt. Mein Spruch vom leeren Kühlschrank hat in diesem Jahr leider schon traurige Berühmtheit erlangt - bis ich gelernt hatte, dass man auch die schrägsten Sachen zur Not einfrieren kann und damit Vorräte schafft. Aber nach jedem Terminstress muss ich einfach hinaus!

Meine "Fressroute" führt mich wie viele Elsässer über Wissembourg am deutschen Weintor vorbei in die Südpfalz. Dort gibt es nicht nur die großen Supermärkte auf der grünen Wiese und Roccos Lieblingshändler für getrocknete Tierohren und Pansen (Richtung Landau), dort kann man auch beim Türken (Schweigen-Rechtenbach) leckere Sächelchen erstehen, die es in Frankreich nicht gibt: Mohn etwa oder feinen, weißen Balsamico-Essig. Auf dem Rückweg fahre ich dann nicht in den deutschen Grenzsupermarkt, der wie eine Währung klingt und in dem nicht nur Elsässer einkaufen, sondern auch arbeiten. Denn da kauft man schlicht nur all die Ware billiger, die Franzosen essen: Baguette, Wurst, Fertigcroissants für die Mikrowelle. Ich biege lieber vorher links ab, in Richtung Schweighofen.

Und das ist auch gleich mein erster Genussort. An jeder Ecke gibt es einen Hofverkauf, Wein sowieso, Schnaps und Liköre aus den urigsten Zutaten - und jede Menge frisches Gemüse und Obst, Kürbisse in unzähligen Sorten, Obstsäfte und neuen Wein in der Saison. Das so großzügig angebotene Probieren sollte man sich wegen der Flics auf dem Rückweg verkneifen (in Frankreich ist schon bei 0,3 Promille Schluss) und lieber fragen, welcher neue Wein wie süß oder britzelig ist - und ob heuer der rote oder der weiße eher zu empfehlen sei. Zum Glück gibt es für die Vergesslichen auch die Kanister gleich an Ort und Stelle zu kaufen. Je nach Saison schwelgt man in diesem Dorf in Erdbeeren und Spargel, Pflaumen oder Äpfeln, Kräutern und hier und da einer Spezialität wie Bärlauch oder Brunnenkresse. Überhaupt ist es ein ganz anderer Hochgenuss, sich den Jahreszeiten entsprechend zu ernähren und Lebensmittel zu essen, die so gut wie keinen Transport hinter sich haben und nur ganz kurz gelagert werden.

Zu diesem Zeitpunkt ist mein Auto schon vollgeladen, aber es geht weiter, an Kapsweier vorbei. Ich habe nie begriffen, ob das Dorf noch Kapsweier heißt oder schon Steinfeld, jedenfalls werde ich die Abzweigung Richtung Kirche (und Karlsruhe) nie mehr vergessen! Ich kam hier einmal zufällig durch, weil ich mich verfahren hatte. Der Magen hing mir damals in den Knien. Und wie ich den Dorfplatz sah und die Kirche, hatte ich das unbedingte Gefühl: Hier muss doch noch irgendwo ein richtiger Dorfbäcker sein!

War er auch. Seither fahre ich meilenweit für mein Brot und damit sich das Benzin lohnt, packe ich damit die Kühltruhe gleich voll. Baguette zum Käse oder zur Suppe ist ja ganz lecker. Aber wer wie ich mit Sauerteigbrot aufgewachsen ist, hat Baguette schnell über. In jenem pfälzischen Dorf also gibt es noch richtig mit Natursauerteig nach traditionellen Rezepten gebackene Brote ohne irgendwelchen Zusatzstoffedreck. Herrliche Blechkuchen mit Riesenstücken, wie sie auch die Oma nicht besser bäckt - immer frisch, immer etwas anderes. Heute waren Aprikosenstreussel, Käsekuchen und handgemachte Lebkuchen dran. Am Wochenende gibt es die Genüsse, die schon die Kaffeetafeln unserer Großmütter zierten. Es ist ein winziger Bäckerladen mit manchmal riesigen Schlangen von Kunden.

Ich bin wohl schon bekannt dort als die Frau mit den Kugelaugen, die auf Vorrat Unmengen Brote einkauft und ganz besonders glücklich guckt, wenn es noch Kosakenbrot gibt. Das wird nämlich nicht jeden Tag gebacken. Und ich bekomme deshalb ein strahlendes Kindergesicht, weil ich dieses Brot in dieser Qualität zum letzten Mal als Kind gegessen habe. Im Badischen, wo ich herkomme, hat man diese einst traditionelle Brotsorte längst vergessen, sind die richtigen Bäcker den Bäcker-Fastfood-Stores gewichen.

Ich bin längst nicht mehr die Einzige, die beim Pfälzer ihr Brot einkauft - Elsässer Kennzeichen sieht man immer öfter, aber auch aus der Pfalz kommen sie weiter angefahren. Heute allerdings erlebte ich den Rekord: Eine Frau kaufte für knapp 200 Euro Brot und Kuchen. Mit Kisten belud sie ihr Auto - Kennzeichen Rastatt. Ich musste grinsen - das ist die Stadt mit den Fastfoodbäckern, wo man ein gutes Kosakenbrot nur noch in einem Laden bekommt - nämlich beim Russen.

Es lohnt sich, so eine Fahrt - wenn man sich die Zeit nimmt und vor allem nehmen kann. Anstatt sich teuren Dreck voller Konservierungs- und Aromastoffe "einzuwerfen", endlich wieder die Düfte und Geschmäcker schon beim Einkaufen erleben... Die Elsässer haben hier eindeutig den Anschluss verpasst. Wo Maismonokultur das Land kaputt macht und mittlerweile Einfalt auf den Tellern herrscht, ist es mit Hofverkäufen nicht weit her. Sicher, da gibt es die feinen Ziegenkäse in Mattstall bei Lembach oder Obersteinbach. Aber auch das sind Entfernungen. Und wer fährt dann schon für ein, zwei Käse dreißig Kilometer, wenn dazwischen die kulinarische Leere gähnt?

Natürlich habe ich vor, mein Elsassbuch wieder neu aufzulegen. Aber nach sechs Jahren hat sich doch einiges sehr verändert, ist so manche Idylle nicht mehr vorhanden. Anderes ist entstanden. Zum Glück habe ich zeitlose Themen behandelt und keine Restaurants empfohlen, die längst pleite sind. Aber ich merke, es wird Zeit, solche Bücher sehr viel grenzüberschreitender anzupacken...


Was ist ein Kosakenbrot?
In den Sechzigern und Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts (wie das klingt) war es eine der alltäglichsten Brotsorten in Baden und in der Pfalz; ein Natursauerteig-Brot mit sehr hohem, fein vermahlenem Roggenanteil (in der Regel 90% mit 10% Weizenmehl, oft aber 100%), das mit Roggenmalz dunkler getönt werden konnte. Gebacken wird es kastenförmig, darüber wölbt sich eine absolut knusprige Kruste. Das Brot selbst ist innen wunderbar feucht-weich und durch den Natursauerteig schön locker mit gleichmäßigen Poren.
Der höchste der Genüsse ist für mich eine Scheibe dieses frischen Roggenbrots mit Butter und ganz dick echtem Bühler Zwetschgenmus!
Was es mit Kosaken zu tun hat, habe ich nie herausfinden können, aber wahrscheinlich eignet es sich für lange Pferderitte in ferne Länder - es hält nämlich unwahrscheinlich lange frisch.
Bon appetit...

4 Kommentare:

  1. Madame!
    Ich sollte kein Wort mehr mit Ihnen reden, daß Sie mir Ihren Bäcker vorenthalten haben.
    Denn ich fahre noch meilenweiter fürs Brot, für richtig gutes Brot, nämlich bis in den Westerwald, nachdem ich die Pfalz als Katastrophenland kennengelernt habe, was Brot betrifft.

    Her mit der Adresse!
    Sonst sind wir nur noch per Sie.

    (Aber nicht hier verraten, sonst ist der gute Mann bald so überlaufen, daß er eine Brotfabrik aufmacht, und das wollen wir ja nicht)

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  2. Liebe Petra,

    das habe ich mit absolutem Genuss gelesen! Dann stimmt es also, was sie kürzlich in einer Fernsehsendung gesagt haben: Dass man keine zusätzlichen Vitamine brauche, sie seien sogar eher schädlich, und dass es die guten Lebensmittel noch oder wieder gebe.

    Herzlich
    Christa

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  3. @Jan
    Hast du's mal mit Selbstbacken versucht? Grundausstattung in vielen elsässischen Haushalten wegen des miesen Kettenbäcker-Baguettes: neben der Mikrowelle steht die Brotbackmaschine. (Ofen tut's besser).
    Die Adresse steht für aufmerksame Leser mit Karte im Artikel ;-)
    Was ich vergessen habe: Auf der gleichen Route gibt's frische Ziegenwürste und geschlachtete Zicklein und bei einem anderen Wildfleisch.
    Allerdings wäre ein Treffen unter Brotkäufern obligatorisch, sonst sind wir nur noch per Sie ;-)

    @Christa
    Leider ist es je nach Wohnort und Arbeitszeiten extrem schwierig geworden, sich solche Lebensmittel zu beschaffen. Für diese Tour verliere ich einen Arbeitstag, allerdings kann man sich in Gruppen organisieren. Aber in meinem näheren Umkreis bekomme ich - außer im Sommer - nur das Giftzeug aus Spanien.

    Die Bauern haben aber umgelernt: Wer in der Mittagspause geöffnet hat, macht da den Hauptumsatz. Ich weiß von einigen im Badischen, dass sie in der Umgebung sogar anliefern und preiswerte Kisten im Abo frei Haus mit gemischtem Inhalt anbieten. Außerdem gibt's sogar in euren Billigdiscountern Bioware. Hofverkauf findet man im Internet und entsprechenden Broschüren, in D. ist das bestens organisiert.

    Bei ausgewogener Ernährung bräuchte man in der Tat keine zusätzlichen Vitamine und die meisten Präparate sind ohnehin viel zu hoch dosiert. Trotzdem gibt es Phasen und Mangelzustände, wo Vitamine von außen hilfreich sind. Dann ist die kleine Pille praktischer, als der Verzehr von fünf Lebern am Tag...
    Die Vitamin-C-Pillen ließen sich mit entsprechenden Früchten ersetzen, früher hat man vorbeugend lecker Holunderbeersirup oder -likör getrunken. Letzteren brauen die Pfälzer auch.

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  4. "Hast du's mal mit Selbstbacken versucht?"

    Rate mal, was ich gestern gerade gemacht hatte, ehe ich deinen Blog las?
    Richtig, das Brot in den Ofen geschoben (Backautomat kommt mir nicht ins Haus!)

    "Allerdings wäre ein Treffen unter Brotkäufern obligatorisch"

    Versteht sich!
    Die Siezerei wäre ja nicht zum aushalten :)

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