Parallelwelten

Genau in dem Moment, in dem heute der Teekessel pfiff, hupte das kanariengelbe Postauto vor der Tür. Ich war noch ganz verschlafen von einem Ausflug gestern ins Möchtegern-Petersburg. Ein gut gelaunter Facteur brachte mir auf die Minute genau den standesgemäßen Frühstückstee (ich als Kaffeetrinkerin!), der mit Schnellpost aus Paris gekommen war:

Tee aus Petersburg via Paris
 Was gibt es Schöneres nach einem getanen Mammutwerk als eine kleine Reise, die ich auch gern zum Auftanken und Umschalten während der Arbeit unternehme. Sind einmal nicht alle Straßen gesperrt, wie in den letzten Monaten üblich, bin ich nämlich in knapp einer dreiviertel Stunde in der Stadt, die Franzosen angeblich als herrlich französisch, Italiener als herrlich italienisch und Russen als herrlich russisch erleben sollen. Man stelle sich Woody Allens "Zelig" einfach als Stadt vor!

Einblick in vergangene Welten
 Vielleicht bin ich deshalb so gern dort - sie ist gemütlich und einfach schön fürs Auge. Sie liegt abwechslungsreich zwischen den sumpfigen Tiefen des Altrheins und den satten grünen Höhen des Schwarzwalds. Sie träumt in der Belle Époque und verschläft die Avantgarde. Sie wirkt selbst unter der Wintersonne wie tief im Süden und fächelt im Sommer Kühle mit ausgedehnten Parks. Und sie zelebriert das Inkognito der anwesenden Berühmtheiten so sehr, dass die Stadt selbst sich jedes Mal verwandelt, verkleidet und nie von dieser Welt zu sein scheint. Welche Welt hätten Sie denn heute gerne?

Das für mich schönste Haus in der Fußgängerzone
Da gäbe es reichlich Grandezza alter Zeiten, als die Berühmtheiten des 19. Jahrhunderts die Stadt zur Sommerresidenz Europas machten. Alles, was Geld oder Adel besaß, zog im Sommer hierher, man strömte herbei von Paris wie Sankt Petersburg, sprach Französisch und Russisch auf den Promenaden. Und natürlich strömten die Künstler jener Zeit mit in die Stadt, um die Sommergäste zu unterhalten, um zu kuren, wenn sie wohlhabender waren, oder um zu schmarotzen, wenn es am nötigen Kleingeld fehlte.

Auch ein berühmtes Dreiergespann pausierte hier von stressiger Probenarbeit, weil man so schön inkognito genießen konnte: Sergej Diaghilew, Vaslav Nijinsky und Igor Strawinsky. Auf einem eilends herbeigeschafften jämmerlichen Flügel soll Strawinsky geklimpert haben, als die drei in ihrem Kurzurlaub ein neues Ballett ausheckten.

Ein anderer Russe hat sich in dieser Stadt romanreif ruiniert - und seine eigenen Erfahrungen mit den Spielbanken seiner Zeit hat er so wunderbar zu Papier gebracht, dass ein unvergessenes Stück Weltliteratur daraus wurde. Auch das ist typisch für die Extreme dieses Mikrokosmos, der kein Mittelmaß kennt: Das Haus, in dem Fjodor Dostojewskij damals wohnte, als er verzweifelt nach Dingen suchte, die sich noch versetzen ließen, ist heute eine Agentur für Luxusimmobilien. Seine Büste zwischen den Balkonen lässt nichts mehr von seiner Armut und Verzweiflung ahnen, Leonid Zypkins großer Roman "Ein Sommer in Baden-Baden" umso mehr.

Dostojewskij-Haus
Neben der hohen Millionärs- und Milliardärsdichte ist der Ruin auch heute nicht weit. Die Stadt selbst hat es nie geschafft, genügend von dem Geld der Reichen festzuhalten - sie kämpft seit Jahren gegen den Bankrott. Ohne arabisches und russisches Geld gäbe es vieles nicht mehr, das Schloss des Markgrafen nicht und auch nicht Europas "größtes Festspielhaus". Nur wer genau hinschaut, sieht die wachsende Armut in den Außenvierteln, den Zustand der Straßen, die mit den hohen Mieten kämpfenden Einzelhändler. Und manchmal reicht der Ausverkauf sogar bis an die weichen Betten der Begüterten heran.

Fadenscheinige Grandezza
 Trotz allem - es ist einfach schön hier. Und wenn man dann auch noch den Abend bei erlesenem Wein und feinen Speisen in einem historischen Gebäude ausklingen lassen kann, macht die Arbeit nachher noch mal so viel Spaß. In einer Dachwohnung ist der jeweilige Stipendiat des bekannten Baldreit-Stipendiums untergebracht und eine Autorin, die es wahrscheinlich nie zu so einem Stipendium bringen wird, verfuttert ihr Honorar lustig darunter.

Hof der Weinstube am Baldreit
Parallelwelten sind nahrhafter als Stipendien. Nicht nur, weil ich von solchen Fahrten immer einen ganzen Sack von Ideen mitbringe - der Roman "Lavendelblues" ist schließlich auch hier entstanden. Nicht nur, weil mich die Herren Gogol, Tolstoj, Turgenjew, und Dostojewskij jedes Mal daran erinnern, noch intensiver an meinem Schreiben zu arbeiten.

Im Moment benutze ich die "pseudorussischen Ausflüge" vor allem dazu, mich wieder in mein Nijinsky-Projekt zu versetzen. Wie immer muss ich meine Themen sinnlich erfahren, muss sie hören, sehen, riechen, schmecken, vielleicht sogar tasten können. Ich muss der Welt meiner Figuren und Themen möglichst nahe kommen, auch wenn dies immer nur bedingt möglich ist. Einen Vorteil hat diese Weltenwandler-Stadt à la Zelig wirklich: Solange es Baden-Baden gibt, kann ich mir exotische Weltreisen sparen, die mit Büchern ohnehin nie zu finanzieren wären. Ich bin mir sicher, ich schaffe es, auch mein nächstes Thema irgendwie hinter diese Fassaden zu quetschen, wie exotisch es auch sein mag...

4 Kommentare:

  1. Liebe Petra,

    durch deinen schönen Beitrag ist das Flair dieser Stadt für mich wieder auferstanden.Gerade im Winter haben wir es oft so erlebt, und in der Wetterkarte haben sie gesagt, dass es da heute 23 hatte.
    Mich hat es schon mal zu einer Kurzgeschichte inspiriert, die dort und in Iffezheim spielte.
    Herzlichst
    Christa

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  2. Frauke Ehlers31/10/10 09:45

    Liebe PvC, sehr schöner Text über Bd-Bd. In besgaten Festspielhaus hat übrigens auch BB Promotion immer mal wieder die Ehre, am 22.-27.2 mit einer sehenswerter Produktion von Evita, die ich im Sommer in der Semper Oper geniessen durfte. http://www.festspielhaus.de/veranstaltung/evita-22-02-2011-2074/

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  3. Liebe Christa,
    ja, wir haben es heute sogar in den Vogesen lau, als existierte hier Föhn!
    Wenn es dich wieder mal in die Ecke verschlagen sollte, gib gern Bescheid - dann könnte man sich mal auf einen Kaffee (oder Tee) treffen!
    Herzlichst,
    Petra

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  4. Danke, liebe FE!
    Manche B-Ber mögen meine Texte nicht ganz so, weil ich am Image kratze, ein Zitat aus dem Lavendelblues hat es sogar zu lokalpolitischen Ehren geschafft:
    http://www.bad-bad.de/so_gesehen/normalitaet.htm
    Und einen älteren Beitrag von mir über die Stadt habe ich entdeckt:
    http://www.cronenburg.net/lavendel_baden.htm (oder meinen Namen anklicken!)

    Evita blickte im Riesenformat auf mich herunter, als ich aus der Tiefgarage kam, ich sollte endlich meinen Festspielhaus-Gutschein einlösen...

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