Staunen über die Welt

Als Kinder lachten wir über einen alten Mann, der ständig laut mit sich selbst und allen möglichen Gegenständen redete. Die Erwachsenen klärten uns auf: "Da lacht man nicht. Der Mann ist einsam. Vereinsamte Menschen reden mit sich selbst."
Einige Jahrzehnte später muss man lange suchen, bis man stille Menschen findet, die schweigen können. Sie reden alle laut vor sich hin, telefonieren ihre Intimitäten in die Öffentlichkeit, tippen manisch sms, twittern und kippen auch noch die letzten Innereien auf den Marktplatz dieser Welt ... Heute lacht man über die Stillen, die nicht "dabei" sind.

Als neugieriger Mensch aus kommunikativer Branche muss ich natürlich alles ausprobieren. Die ersten Berufs- oder gar Frauennetzwerke habe ich erfolgreich überlebt, Foren selbst geführt oder meine Mitgliedschaft darin glücklich beendet, Facebook habe ich kürzlich abgeschlachtet. Der Selbstversuch am lebendigen Leib mit Twitter läuft noch. Hier ein kleiner subjektiver frecher Zwischenbericht ganz persönlicher Erfahrungen:

Twitter als Ticker

Weil immer mehr Menschen Twitter als PR-Instrument benutzen, kann man den Dienst wie einen Ticker nutzen. Ein Radiosender verrät, was gerade im Radio läuft, ohne dass ich es noch anschalten muss. Von meiner bis dato Lieblingszeitung erfahre ich, in welcher Fülle platte, überflüssige Meldungen dort hereinrauschen - Schutt, der bisher an der gemächlichen Leserin vorbei ging. Boulevard ist überhaupt "in". Ein Verlag, den ich bisher für anspruchsvoll und literarisch hielt, hält mir mit Penetranz Meldungen über Sex und Liebe unter die langsam allergisch werdende Nase. Sekündlich konnte man verletzte Iraner zählen, Michael Jackson Fans noch viel schneller. Und irgendein Fressdienst, den ich des Genusses wegen abonniert hatte, bringt Expertenantworten über "Eisentnahme mit Löffel".

Es gibt zwei Möglichkeiten, mit Twitter als Ticker umzugehen. Entweder man ist Laie. Dann kann einem das Folgen von mindestens 50 solcher Infomaschinen ein Gefühl von Omnipotenz geben. Irre, wie viel Bildung da zu einem Auge reinrauscht und zum anderen wieder hinaus - und nebenbei stemmt man noch eine kleine Revolution in irgendeiner fernen Bananendiktatur mittels RT (=Zitat durch copy&paste), weil die Leute das dort allein ja nicht stemmen können, wenn man ihnen die Handys wegnimmt.

Oder man ist tickerabgebrühter Journalist wie ich. Dann lässt man gar nicht erst alles an das Auge heran, sondern entscheidet nach den ersten Wörtern: Müll. Und macht sich so seine Gedanken um den Hype und das Dahinter. Ich habe schon lange nicht mehr so selten Fernsehen geschaut, meine Edelzeitung so oft angekelt weggelegt und vom Bestellen eines Verlagskatalogs abgesehen. Twitter ist wie Perlentaucher mit umgekehrten Vorzeichen: Ich erfahre quer durch Medien und Infotainment, was ich alles nicht lesen muss. Dank Twitter entnehme ich Eis jetzt mit der Zunge, treibe mich ohne Internetanschluss bei Winzern herum und frage mich, warum die Uiguren für virtuelle Revoluzzer weniger sexy sind als die Iraner.

Schräge Vögel bei Twitter

Der einsame Mann aus meiner Kindheit wäre der perfekte Twitterer gewesen. Zugegeben, es ist nicht einfach, Relevantes in 140 Zeichen zu produzieren und Dialoge zu halten, wenn währenddessen hunderte von Tweets (Beiträgen) hereinrauschen und man die von nichtverfolgten Drittrednern nicht lesen kann. Lesen kann man aber sowieso nicht alles wegen der Menge (und will man es denn?). Also verabredet man sich per Mail. Oder bleibt an der Oberfläche. Selbstdarsteller haben Konjunktur. Manche machen sich sogar darüber lustig, dass sie Antworten auf ihr Gesülze bekommen.

Der einsame Mann aus meiner Kindheit hat laut mit seinem Kuchen gesprochen. Heute macht man ein Kuchenaccount auf und twittert mit Schwarzwälder und Frankfurter Kranz. Der eine stakst wie der Storch angewidert durch den Salat, die diebische Elster will einem Erleuchtung und Geschäfte fast für umme aufhängen, der Kiebitz von der Konkurrenz gibt sich kommunikativ und späht doch nur aus. Irgendwo tschilpt ein niedlicher Spatz vornehmlich Männer an und eine Drossel spottet über alles und jeden. Früher hätte ich mich noch gewundert, wenn im Vogelkonzert ein Schwein pfeift - im Zwitscherdienst gibt es auch das.

Mein Tipp: Ideal für Rollenspiele mit sich selbst. Einfach mehrere Accounts eröffnen mit gegensätzlichen Persönlichkeiten und sich dann selbst folgen und miteinander reden. Gibt es allerdings auch schon, kürzlich hat sich ein PR-Mensch bei Twitter öffentlich mehrfach selbst begrüßt - in all seinen fragmentarischen, von Auftraggebern generierten Persönlichkeiten.

Twitter: Der Teich des Narziss

Ich gestehe: auch ich rede nur noch von mir. Was soll man auch tun, wenn man keinen kennt, keiner antwortet und manche Leute sogar richtig erschrecken, falls man ihnen Feedback gibt? Das ist wie früher in der Kneipe. Man geht rein, ist falsch angezogen, sagt trotzdem fröhlich Hallo - und alles dreht sich entsetzt um. Twitter dagegen ist auch für Schüchterne geeignet: Man sieht das Umdrehen der anderen nicht mehr. Und sagt das Hallo lieber in den Spiegel. Twitterer spiegeln sich in all den anderen Spiegeln: Wer ist die Schönste im Land, wer hat die meisten Verfolger, wer ist am witzigsten, wer hat die dräuendste Untergangsmiene, wer ist Trend? Im sogenannten Social Web wird endlich der Autist, der Narziss, ja sogar der Soziopath zum anerkannten Grundstein einer beziehungslosen Oberflächengesellschaft - das ist doch mal wirklich social, oder?

Als ich meiner internetlosen Freundin kürzlich erklärte, was ich mir täglich bei Twitter reinziehe, schaute sie mich entsetzt an und fragte: "Würdest du dich in einer Kneipe mit solchen Leuten an einen Tisch setzen?" - Und ich musste gestehen: "Solche Leute beobachte ich im realen Leben intensiv. Die brauche ich - wie soll man sonst Romane schreiben können, wenn man nicht skurrilsten Anschauungsunterricht bekommt?" Meinte sie: "Du schreibst aber doch gar keine skurrilen Romane über Verrückte?"

Tja. Auch das ist Twitter. Mit der Zeit überschätzt man sich selbst. Bekommt ein völlig falsches Selbstbild und glaubt, in 140 Zeichen eine persönliche Revolution anzetteln zu können, für die Psychiater 140 Sitzungen bräuchten.

Warum ich immer noch dabei bin? Ich will den Untergang eines Diktators und meiner Edelzeitung in Echtzeit miterleben. Ich kann endlich überflüssige, hirnverstopfende Gedanken umweltfreundlich recyclen. Ich spende ja auch Entrümpeltes und irgendwer freut sich darüber. Ich treffe Leute, die heimlich denken wie ich.

Und wenn ein bekannter Philosoph sich öffentlich die dritte Zigarre ins Gesicht pflanzt, wenn sich der vermeintliche Spambeitrag als Gefasel eines weltberühmten Schriftstellers unter Decknamen entpuppt, wenn Verlagsleute unter eben solchen Pseudonymen Dinge sagen, für die sie sich live schämen würden, wenn sich der berühmte fesche Frauenversteher X als angejahrter, stinklangweiliger Macho erweist - dann, ja dann lerne ich etwas aus meiner Kindheit wieder: Das Staunen über die Welt.

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3 Kommentare:

  1. Trara und so kann's gehen: Gleich hat sich Gefolge abgemeldet - ich bin wohl zu böse ;-)

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  2. Sabine Kanzler22/7/09 09:36

    Petra, die Frage ist nicht, ob wer und, wenn ja, wer geht. Die Frage ist, wer bleibt!

    Ich gehe immer noch schwanger damit, ob ich mittwittern soll. Weil - so leicht wie dort kann man sich ja fast nirgends öffentlich zum Deppen machen...

    Geht das eigentlich umgekehrt auch? Sich öffentlich schnell zum Genie hochstilisieren?

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  3. Ich denke, Sabine, Publikum sollte man nie für dumm halten (auch wenn das von Fernsehen & Co. täglich praktiziert wird).

    Bei Twitter fliegen die Geschäftstypen, die nur verkaufen und verzocken wollen, recht schnell auf. Einer, der nur Werbung macht, wird blockiert. Als im Iran die Unruhen losgingen, haben Twitterer auch die Propaganda-Accounts der Regierung schnell erkannt und isoliert, es gab sogar Blacklists im Internet, vor wem man sich hüten sollte (immer natürlich mit Fehlerquote).

    Natürlich gibt's die Selbstdarsteller, die sich hochstilisieren zu irgendwelchen schrägen Rollen. Ich selbst lese sowas zum Amusement, würde aber keinen Pfifferling auf die Wahrheit geben. Die meisten langweilen irgendwann, weil sie ihre Rollen zu plakativ und starr ausleben. Nettes Übungsterrain für Romanfiguren...

    Und ja, es gibt auch das knalldumme Publikum in passiver Konsumentenhaltung, dass ALLES schluckt und kauft. Die hat man aber schon los, wenn man Nebensätze bilden kann ;-)

    Warum nicht ausprobieren? Ein Account fürs Haustier ist schnell eingerichtet, dann kann man stöbern, mitlesen, ausprobieren. Und in Sekundenschnelle ist der Hamster wieder gelöscht... Twitter ist sogar voll von Karteileichen, die ihre Ergüsse vor sich hin rotten lassen.

    Ich denke, man muss selbst testen, welche Kommunikationsformen einem liegen. Und ob man dort überhaupt sein Zielpublikum erreicht.

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