Quantitäten

Es gab einmal eine Zeit, da bekam ich von einem Agenten das dämliche Gerücht kolportiert, Journalisten könnten keine Romane schreiben, weil sie viel zu kurz angebunden seien. In der Tat hatte ich damals die magische 35-Zeilen-Grenze für Kurzkritiken verinnerlicht und durfte bei Aufmachern 150 Zeilen nicht überschreiten. Ein Buch von 150 Seiten erschien mir dagegen schon wie ein Zeppelin auf einer Luftballon-Party. Aber warum sollte ich eigentlich nicht mehr schaffen, wo ich doch tagtäglich Massen von Kurztexten für Zeitungen absonderte?

Später fand ich heraus, dass an jenem Gerücht ein Körnlein Wahrheit klebte. Mein erstes Sachbuch-Opus kürzte ich von fast 700 Seiten auf unter 200 herunter - und siehe, es ward gedruckt. Fortan sparte ich mir die Arbeit und fand Romane mit 250 Seiten angenehm dick. Komm auf den Punkt, sei klar und logisch, biete Relevanz und Stringenz ... so laberte mein Alter Ego, die Sachbuchautorin, mir ins Gewissen.

Und dann beging ich den Fehler meines Lebens. Ich begab mich unter Kolleginnen und Kollegen ins Internet. Die jubelten sich in feinem Halbjahresrhythmus zu, dass sie wieder ein 500-Seiten-Werk auf die Menschheit losgelassen hatten und sammelten Veröffentlichungen wie unsereins Recherchematerial. Ich begann, mich zu vergleichen. Ein Abgrund tat sich auf. So würde aus mir nie etwas werden. Bei einem gefühlten Exemplar von Buch alle zwei Jahre - oder so ähnlich - war mein Untergang bereits besiegelt. Würde die Wahrscheinlichkeit eines Durchbruchs tatsächlich an der statistischen Häufigkeit von Marktüberschwemmungen hängen, könnte das Horoskop in Erfüllung gehen, dass eine Bekannte mir partout erstellen wollte: "Wird uralt, erlebt aber erst extrem spät den Durchbruch."

Wenn ausnahmsweise ich eine Neuerscheinung bejubelte, bekam ich mitfühlende Postings und Mails: "Du weißt ja, Donna Tartt hat viel länger gebraucht." - "Gut, für die Unterhaltungsbranche müsstest du noch ein wenig trainieren, aber du schreibst ja eh Nische." - "Ich tät doch öfter Bücher raushauen, sonst vergessen sie deinen Namen!" - "Echte Fans werden dich hassen, wenn du immer so kurze Bücher schreibst!"

Irgendetwas war da aus dem Gleichgewicht geraten. Hätte ich meinen Leserinnen und Lesern wirklich mehr als 220 Seiten Kulturgeschichte, Kunst und Literatur in "Das Buch der Rose" um die Augen beuteln sollen? Und das, wo andere den Rechercheaufwand von wenigen Monaten in zehn Jahren Studium absolvieren? Ich tat das einzig richtige: Ich machte mich dünn. Und wechselte die Fronten.

In einem Paralleluniversum des Internet fand ich Menschen wie Donna Tartt. Sie grübelten seit ihrer Jugend an heftigen Lebensthemen, gingen Jahre schwanger mit einem Projekt und verbrauchten drei bis vier Stipendien, um dann für eine einzige Veröffentlichung geschätzte 40 Seiten pro Jahr zu Papier zu bringen. Literatur nannte man diese Art des Produzierens - und sie erschien mir wie der verrückte Spagat zwischen der Kürze eines Journalisten und der Entschleunigung eben jenes Zeppelins. Vielleicht sollte ich auf all die bunten Luftballons verzichten?

Pech gehabt. In nicht allzu langer Zeit steht bei mir das nächste halbe Jahrhundert an. Und dazu ausgerechnet dieses vermaledeite Horoskop, das mir nie verriet, ob der Durchbruch schon mit 60 kommt oder erst mit 95. Stipendiengeber wissen, warum sie Jugendliche bevorzugen. Zwar steigt die Lebenserwartung heutzutage erheblich, aber bei Donna Tartts Tempo hätte ich nur noch etwa 5 Bücher bis zu meinem Hundertsten vor mir. Vorausgesetzt, mich verschonen Demenz, Arthritis und Buchstabenallergie.

Ach, es ist alles so nichtig. Neuerdings schaffe ich es, auf 140-Twitterzeichen Inhalte zu produzieren. Wenn mir jetzt eine Kollegin sagt, sie müsse zu ihren 500 Seiten noch 300 bis Monatsende schaffen, habe ich dafür nur noch ein belustigtes Lächeln übrig. 300 Seiten in einem Monat, was ist das schon! Ich habe Ende nächsten Monats Abgabetermin und darf höchstens, wirklich allerhöchstens 88 Seiten schaffen! Und stöhne derzeit bei Seite 33, als hätte ich einen Mammutmarathon hinter mir. Achtzig Seiten für ein ganzes Leben, eine Epoche, ein Gesamtkunstwerk, für Tanz und bildende Kunst und Literatur und zwei Kulturen und zig Länder. Das muss man erst mal schaffen, so wenig zu schaffen.

Ein Leichtgewicht wird es außerdem werden. Vom Gewicht eines Luftballons. Nicht mehr als drei CDs. Ich habe schon lange nicht mehr so viel gekürzt und eingedampft. Und denke bei jedem Kapitel: Um Himmels Willen, so viel Gelaber, wer soll das aushalten?"
Neuerdings mache ich mir Mut: Wenn wir einen extrem langsam sprechenden Schauspieler fänden, wäre ich fast schon fertig...

Anmerkung: Donna Tartt hat an ihrem ersten Bestseller angeblich mehr als zehn Jahre geschrieben. Unsereins muss mit 100 Jahren Ballets Russes mithalten.

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