Reise nach Amerika

Gestern ist mir etwas passiert, das mich privat tief berührt hat und das mir auf künstlerischer Ebene etwas von der Magie offenbart, die uns antreibt, wenn wir Bücher lesen oder schreiben, die uns Menschenleben nahebringen und womöglich noch die Vergangenheit. Da ist dann dieser geheimnisvolle Punkt, wo sich die Vergangenheit mit der Gegenwart berührt, wo das eine im anderen sichtbar wird. Etwa so wie in dem meisterhaft verwobenen Roman "Alles ist erleuchtet" von Jonthan Safran Foer. Kürzlich habe ich die Verfilmung gesehen, die zwar auf eben jenen vergangenen Erzählstrang zugunsten des Mediums verzichtet, aber da war plötzlich ein ganz eigener Verwebe-Punkt im Film. Ein Bahnhof aus einem familiären Tabu...

Erst in diesem Jahr habe ich entdeckt, dass es bei meinen Eltern eine Art Giftschrank gegeben hatte, ein gut verschlossenes Fach, in dem alles verschwand wie in einem Scharzen Loch; der Erinnerung gestohlen, verschämt mit Kram getarnt, aber doch immerhin dadurch vor jeder Vernichtung bewahrt. Vielsagend die Auswahl: Der erste Erotikroman (Emanuelle), den ich mir heimlich vom Taschengeld gekauft hatte und der plötzlich auf geheimnisvolle Weise verschwunden war. Familienaufzeichnungen. Meine frühesten Manuskripte und politische Artikel, die ich vergeblich jahrzehntelang gesucht hatte. Angeblich waren sie einem Hochwasser zum Opfer gefallen. Fotos. Wahrscheinlich hat jede Familie ihren eigenen Giftschrank, der sich in den Köpfen fortsetzt. Wo die Tochter von Kindheit an darauf gedrillt wurde, bloß nie Künstlerin zu werden, und die Künstler in der Familie als schwarze Schafe galten (so viel zum Wert von Erziehung). Wo man sich sesshaft gab und einheimisch, obwohl es kein typischeres Migrantensammelsurium des alten Europa gab.

Meist leben die Menschen sicher und bequem in den eigenen Verdrängungen und selbstgemachten Familienmythen. Deshalb funktioniert Literatur so wunderbar. Sie lässt Menschen ausbrechen, weitet Horizonte, konfrontiert - aber man kann das Buch dann wieder zuschlagen und beruhigt aufatmen: "Das war ja nur ein Buch." Das Buch des Lebens dagegen ist hinterhältiger als so ein Ersatzleben auf dem Papier - es öffnet seine Seiten immer wieder, Geschichten sickern heraus, eine Ahnung von Schicksalen. Es gibt ein breites Spektrum von Fachliteratur darüber, wie sich Familienlügen über Generationen vererben können und dadurch Schaden anrichten.

Meine Umgehung des inneren Giftsschranks war eine Großtante, von der ich heute weiß: Sie brachte mich zum Erzählen. Sie vermittelte mir die Magie von Menschengeschichten. In einer schamanischen Gesellschaft wäre sie die Dorferzählerin gewesen, in der Zeit meiner Kindheit war sie die einzige, die den gesamten Clan gekannt hatte, vom äußersten Osten bis in den äußersten Westen. Und so konnte ich es nicht abwarten, sie zum Kaffee zu besuchen, ihren unvergesslichen Mohn mit Streusseln zu essen, auf den die Kettenraucherin auch Asche streußelte, und ungeduldig zu fragen: "Tante, erzählst du mir wieder von Amerika?" Sie ließ sich nicht lang bitten, denn sie war auch die einzige, die selbst in Amerika gewesen war. Manchmal, ganz selten, holte sie ein paar wenige Fotos hervor, die ein klein wenig älter waren als ich.

Aber ich kannte diese Menschen schon längst vorher. Diese Leute, die irgendwie mit mir verwandt waren, und die irgendwann aus einem mir fremden Land in ein anderes fremdes Land emigriert waren, die von einer Sprache, die ich nicht konnte, in eine andere Sprache wechselten. Dank dieser Frau, die das kollektive Gedächtnis der Familie war, erfuhr ich von Hungersnöten und Kriegen, von Dingen, die Menschen anderen Menschen antaten, und von Träumen und Visionen, die Menschen hinaustrieben aus der Enge. Von den Menschen meiner Generation erfuhr ich, wann sie gezahnt hatten, mit wem sie im Sandkasten spielten und was sie zu Weihnachten bekommen hatten. "Amerika" wurde in meinem Kinderkopf zu mehr als nur einem Kontinent, es war eine Art Mythos, ein Traum von Freiheit, von harter Arbeit gewiss, aber auch vom Umsetzen der eigenen Träume.


Da war einer gewesen, nennen wir ihn G., der galt als besonders schwarzes Schaf. Nicht, weil er Künstler war, nein, er hatte auch noch Vater und Mutter verlassen! So etwas tut man nicht. Nimm dir ein Beispiel an den anderen. Werde ja nicht so ein Mensch.
Bei der Großtante dagegen verwandelte sich G. in einen Märchenkönig. So reich soll er geworden sein damals, dass er seiner Frau eine Villa auf den Bermudas hinstellte und zum Hochzeitstag ein Cabrio voller roter Rosen davor. In den miefigen deutschen 1960ern ein Unding, so etwas gab es nicht einmal im Film! Also bin ich zum Glück umerzogen worden: Wer sein Ding macht, der hat möglicherweise damit Erfolg. Hartnäckig daran arbeiten muss man eben. Das schwarze Schaf G. wurde mir zum Beispiel.

Doch irgendwann geschieht im Leben das, was auch manchem Buch geschehen kann, wenn es etwa schlecht verfilmt wird. Es wird entmythologisiert. Irgendwann nämlich konnte ich genügend Englisch, um Kontakt mit dem Clan im Westen aufzunehmen. Das Gefühl kennt wahrscheinlich jeder: Man erinnert sich an einen machtvollen, riesigen Urwaldbaum im Garten der Kindheit. Dann steht man Jahrzehnte später vor dem gleichen Baum und wird eine Weile nicht fertig mit dem Gedanken, dass er doch unmöglich so geschrumpft sein kann, wo Bäume doch stetig wachsen! So war das auch mit den Geschichten der Großtante. Aus den ersten jauchzenden Emigranten wurden Menschen, die für den Aufbruch ins Ungewisse alles zurückgelassen hatten, aus den typischen Tellerwäschergeschichten wurden Leben voller Mühen und harter Arbeit. Und doch überlagerte das Erzählen auf eine fantastische Weise die alltägliche Wirklichkeit, weil es den Zauber einfing, die Kraft der einzelnen Menschen, die man im Alltag so gern vergisst wahrzunehmen.

Gestern kam ein neuer Zauber hinzu. Ich hatte endlich einmal etwas Muße, im ehemaligen Giftschrank zu wühlen. Meine Finger stießen auf einen alten Briefumschlag von irgendeiner Werbung. Sehr dick war er, sehr tief in der Kiste verborgen. Und so fand ich Fotos, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, auch nicht bei jener Tante. Das, was ich hier sah, hatte ich mir allenfalls im Kopf ausgemalt und noch nicht einmal richtig - ich war nämlich in der falschen Zeit. Hier lagen Fotos von 1925 datiert, als es ihnen schon gut ging. Mit dem Ersten Weltkrieg müssen sie wohl ausgewandert sein. Einen von den ganz jungen Männern hatte ich als kleines Kind noch erlebt, als er einmal zu Besuch kam. Ich vergesse es nie, wie ich im alten Radio mit dem magischen Auge Kurzwellenrauschen und seltsame Signale hörte und er mir erklärte: Da hörst du Amerika. Stundenlang konnte ich damals diesem Britzeln und Knattern lauschen, mir vorstellen, wie unendlich lange Telegrafendrähte summten - von mir bis nach Amerika, mitten in diese Kopfidee hinein.

Auf einem dieser Fotos ist der berühmt-berüchtigte G. zu sehen, wie er sich von seinen Eltern verabschiedet. Stolz hatten sie das Foto nach Deutschland geschickt und geschrieben, er mache sich nun 3500 Meilen auf den Weg, nach California. G. ist von einem gewissen Schick, trägt das etwas längere gewellte Haar nach hinten gekämmt, so dass eine ungewöhnlich hohe Stirn auffällt. Er ist auf dem Weg zu seinem neuen Arbeitgeber, einem gewissen Disney, wo er Portraitzeichner wird.
Und da sind auch all die anderen. Der malochende Farmer der ersten Generation, dem die Armut das Gesicht verhärmt hat, aber nicht den Stolz aufs eigene Land löschen konnte. Auswanderer einer späteren Generation auf einem Schiff, die nicht mehr nach Zwischendeck und Entbehrungen aussehen. Erstaunliche Gesichter, sprechende Mienen, Fotos voller Geschichten.

Und da fiel mir auf, dass ich gerade auf dem umgekehrten Weg reiste wie Jonathan Safran Foer. Der Bahnhof, der mir in der Verfilmung so auffiel, war auch einer von mehreren familiären Ausgangspunkten gewesen; einer, der im Giftschrank versteckt gewesen war, einer, der dort endete, von wo Foers Protagonist abgereist war. Menschengeschichten. Man kann nicht mehr aufhören, wenn man dieser Magie einmal verfallen ist. Dann spricht aus jeder Zeile eines Briefes, aus jedem vergilbten Foto, aus jedem Koffer so viel Leben...

Ein Geschenk für das, woran ich derzeit arbeite. Da ist auch so einer, eigentlich Pole, doch durch die Geschichte Russe, im fernen Frankreich, immer mit dem Koffer in der Hand - und dann bricht der Erste Weltkrieg aus und eine gnadenlose Wirrnis beginnt, weil die ungarische Frau nicht nach Amerika will. Noch so eine Menschengeschichte aus dem Schmelztiegel der Migration, diesem wundervoll lebensbunten Europa.

3 Kommentare:

  1. Neben dem wunderbaren Lob der Menschengeschichten als Urgrund aller Literatur, sprichst du etwas aus, was leider derzeit in Vergessenheit zu geraten scheint. Europa ist der größte kulturelle Schmelztiegel der Geschichte - und er muss es auch in Zukunft bleiben, soll aus dem Kulturkontinent nicht wieder der längst überwunden geglaubte Barbareikontinent werden. Denn: Zur Kultur gehört es, das Andere Sein zu ertragen. Roma in Frankreich. Moslems in Deutschland. Juden in Russland. Sie mögen den braven Bürger noch so verstören, sie gehören dorthin. Es gibt keine Alternative zu Freizügigkeit und Toleranz außer der, die langfristig an einer Selektionsrampe endet.

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  2. Matthias, abgesehen davon, dass ich dabei öfter an deinen hochwichtigen Beruf des Biografen denken musste, hätte ich die Hintergedanken, die ich beim Schreiben dieses Beitrags hatte, nie so gut auf den Punkt bringen können, wie du das gerade gemacht hast. Danke!

    Nicht allein wegen meiner Familiengeschichte betrachte auch ich es mit großer Sorge, wie schick und "partylike" menschen(rechts)verachtendes Gedankengut in Europa wieder fröhlich Urständ feiert, weitergetragen von Politikern und auch von Menschen, denen man mehr Intelligenz zutrauen müsste. In meiner Jugend hieß es zu Recht: Wehret den Anfängen. Heute zuckt man die Schultern und sagt: Man wird ja wohl mal drüber reden können.

    Ich halte u.a. deshalb die Zeit der europäischen Avantgarde (mein Übersetzungsprojekt spielt da) für ein ungeheuer wichtiges Beispiel: Paris wurde damals Weltstadt von Kunst und Kultur, WEIL hier ALLE Kulturen und Religionen einen Platz fanden und sich gegenseitig wild befruchteten.

    Ich halte deshalb das Thema Ballets Russes für so ungeheuer aktuell und wichtig: Dieses Kulturphänomen, das ja alle Bereiche der Kultur beeinflusste, war nur möglich in einem Kulturgemisch zwischen dem äußersten Westen (F) und dem äußersten Osten (Ru), zwischen Emigranten und Einheimischen, zwischen Orthodoxen, Juden, Christen, Atheisten...

    Mit dem Ersten Weltkrieg war dieser Austausch zu Ende, Vergleichbares kam nie mehr nach. Paris ist ein Museum geworden, das vergeblich den alten Zeiten nachhängt und Touristen bedient, politisch eiskalt geworden. Picasso säße heute im Plattenbau im Banlieue, seine berühmten, vom Umherziehen staatenlos gewordenen Kollegen wahrscheinlich in der Transitzone des Flughafens - die nächste Abschiebung erwartend.

    Wir haben noch eine Menge zu tun für ein menschenwürdiges, freies Europa...

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  3. Die amerikanische Gesellschaft bricht auseinander: Millionen Bürger haben durch die Rezession ihren Job verloren und verarmen, unter ihnen viele Mittelschichtfamilien. Ich hoffe doch sehr, dass die amerikanischen Menschen nicht den Mut verlieren, denn immerhin ist Amerika die führende Nation und eine der grössten Wirtschaftsmachten auf dem Globus. Auch unser Wohl und Wehe als Exportnation hängt daran. Es wäre auch für uns schlimm, wenn Amerika nicht auf die Beine käme.

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