Piraten, Ohrwürmer und ein Messias

Allüberall schlägt die Sonne in den Hirnen zu, die Lektüre wird eindeutig kurzweiliger - und das in Zeiten, in denen die Kirche immer noch Tanz und andere Lustbarkeiten verbieten will. Zumindest wenn sie aus dem Vatikan kommen, sollte man solche kirchlichen Verlautbarungen jedoch kritisch lesen: Sie könnten falsch übersetzt sein. Es wird nicht unbedingt die Google-Übersetzungsmaschine der "Schuldiger" sein, aber falsche Sparsamkeit am falschen Fleck rächt sich eben und ein guter menschlicher Übersetzer denkt selbst mit, kostet aber eben auch. Wenn jetzt also der Vatikan plötzlich durchlöcherte Kondome ausdrücklich erlaubt und der Papst in der italienischen Fassung auch solche ohne Fehl und Tadel, dann ist das Lachstoff genug in einer Zeit ohne Tanzvergnügen. Stefan Troendle vom ARD-Hörfunkstudio Rom deckt die schlimmsten Übersetzungspannen auf.

Wäre Troendle beim ZDF, könnte man vermuten, dass auch er nicht echt sei. So geschehen mit dem Twitteraccount @ZDFonline, das seit zwei Jahren erfolgreich übers Programm des Senders twittert. Auch ich war schon angetan, wie nett man dort auf Zuschauer-Kritik reagiert, hatte ich doch einmal eine gewisse Art von Film als "Seniorenprogramm" bezeichnet. Normalerweise antworten Feuilleton oder Sender nicht bei Twitter - man gibt sich lieber unnahbar und unkommunikativ. Keiner hat's gemerkt, vor allem das ZDF nicht: Hinter dem Account verbargen sich zwei Schwaben, die mit dem Sender nichts zu tun hatten. Steffen Meier gratuliert dem ZDF zum PR-technischen Geniestreich, aus einer kriminellen Tat eine Arbeitsanstellung zu machen. Ich frage mich kritisch, ob das nicht zu einer neuen Masche von Jobbewerbungen anstiften könnte. Schließlich gibt es im Web genug Klientel, denen Recht und Gesetz am Hintern vorbeigehen, wenn es nur genügend hippe Typen brechen.

Werden wir mal ernst. In Moskau gibt es eine neue Ökobewegung, vielmehr die ersten zarten Triebe einer Ökobewegung überhaupt. Der Freitag beschreibt eine ökologische WG und einen 25jährigen Neureichen, der nicht nur vom Saulus zum Paulus, sondern gleich zum Messias mutierte. Kein Fleisch, kein Alkohol, keine Drogen, keine Zigaretten, keine Anzüge und keine Frauen mehr - grünes Gewissen kann verdammt anstrengend und extremistisch sein. Der Mann erinnert ein wenig an die superasketischen Jünger Tolstois, die in ihrer lebensfeindlichen Lebensretterhaltung selbst den großen Meister erschreckten. Aber wie soll man sonst ein Vorbild unter Ignoranten werden, wenn man nicht aufs Ganze geht und an die eigene Sache glaubt? Geht's auch ein wenig versöhnlicher?

Was dieser Artikel mit Medien und solchem Kram zu tun haben könnte? Nun, mir ist dabei schlicht klargeworden, woran mich die bei Twitter und im Web Zwonull wortreich umrauschte, in meinen Augen nach Durchsicht diverser Web-Berichte seltsam inhaltsleere Konferenz re:publica (herrlich polemischer Verriss) erinnerte, wo irgendwelche Leute irgendeine "digitale Gesellschaft" gegründet haben. Dabei haben wir auf dieser globalisierten Welt noch so viel Gesellschaft, die nicht einmal am Web 1.0 teilhat! Egal. Sollen sie spielen, sollen sie gute Ideen haben. Aber muss es immer gleich diese Messiasrolle sein?

Mir lieber sind Leute, die mit beiden Beinen auf dem Boden stehen und das vergötterte Web Zwonull als das betrachten, was es ist: ein reines Medium, ein Handwerkszeug wie früher der Staubsauger oder die Buschtrommel. Marie-Christine Schindler schreibt im O'Reilly-Blog wie das Social Web zur Fundgrube für Recherchen gemacht werden kann und wie sich mit den unterschiedlichen Instrumenten Informationen zu Wissen machen lassen. Kenntnisreich zeigt sie, dass trotz aller Fülle, Automatisierung und schier unbegrenzten Möglichkeiten eines immer wichtiger wird: Der Mensch, der sich ganz offline und im eigenen Hirn Gedanken macht, der auswählt und kuratiert, der die Fähigkeit hat, Informationen einzuschätzen und Menschen zu beraten oder durchs Web-Dickicht zu leiten. Dass der Artikel auch hemmungslos Werbung für ihr Buch macht, nimmt man bei so viel Nachdenkenswertem gar nicht übel.

Achtung, jetzt wird's ganz ernsthaft. Viele wissen das gar nicht: Ein Text ist nicht ein Text ist nicht ein Text. Je nach Medium oder Kanal im Medium muss ich die gleiche Geschichte im Idealfall jedesmal anders erzählen. Einfach den Text eines Flyers online zu heben, macht noch lange keine gute Website. Bei Twitter formuliere ich anders als im Blog. Die Verfilmung eines literarischen Werks ist so schwierig, weil beide Medien über eine andere Sprache verfügen. Und wie ist das mit Hörbüchern? Da wird doch einfach geschriebener Text vorgelesen! Stimmt - aber nicht jedes Buch gewinnt dadurch, manchen würde man wünschen, sie würden nie vertont. Andere Bücher berauschen dagegen plötzlich im mehrstimmigen Vortrag.

Heute abend um 19:30 bringt das Deutschlandradio Kultur einen Beitrag über dieses Phänomen: Text im Ohr. Wie die Schrift im Hörbuch zur Sprache kommt. Wer wie ich das Radio nicht empfangen kann, kann sich in Ruhe das Sendemanuskript als pdf durchlesen.

Mich fasziniert das Thema besonders. Mein Nijinsky-Text ging nämlich den umgekehrten Weg: Ich konzipierte ihn direkt für das Medium Hören - ursprünglich sollte sogar Musik eingespielt werden. Anfangs war das ein völlig neues Schreiben, denn durch das Ohr nehmen wir Inhalte absolut linear auf. Wir können nicht so einfach im Satz vorausschauen oder zurückspulen. Wir "sehen" in der Reihenfolge des Erzählten. Gehörter Text muss außerdem klingen - abwechselnd mit Musik entwickelt er eine eigene Dynamik, reibt sich oder geht unter. Nun hatte ich mich auf das Experiment vor allem deshalb eingelassen, weil ich ohnehin sehr stark nach "innerem Gehör" schreibe. Rhythmen, Klangfarben, der wechselnde Atem von Texten spielen bei mir auch in der rein geschriebenen Form eine große Rolle.

Trotzdem war die Umkehrung dann wieder abenteuerlich: Wie würde sich ein ursprüngliches Hörmanuskript als gedrucktes Buch machen? Würde man die Übergänge zur Musik plötzlich wie "Werbepausen" wahrnehmen? Könnte man schriftlich die gleichen Sprünge machen wie im Hörbuch? Ich habe den Text nur leicht bearbeitet - wie gesagt, entspricht dieses Schreiben meinem eigenen Stil. Trotzdem konnte ich einiges einfügen, das beim Hören nicht funktioniert hätte. Und da waren die Endnoten nur das kleinste Problem...

Ich habe natürlich jetzt genau das angewandt, was alle hippen Leute im Web Zwonull zelebrieren: Raffiniert Information und Wissen mit gnadenloser Eigenwerbung mischen. Ich mache das natürlich nur, damit ich einen Übersetzerjob beim Vatikan bekomme oder vom ZDF entdeckt werde. Denn auch ich bin für Geld zu haben.

2 Kommentare:

  1. Hallo! Ein so interessant und gut geschriebener Artikel! Danke schön! Herzliche Grüße, Luise!

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  2. Freut mich und beflügelt mich zu mehr... Danke auch!

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