Autremonde

Man gönnt sich ja sonst nichts. Manchmal gönnt sich Madame einen "Brotjob", der Heizöl für den Winter einbringt UND Spaß macht UND zu Texten führt. Gestern war Teamtreffen vor Ort für ein europäisches Projekt, die Grenzen betreffend. Wanderstiefel im Auto und Fleecejacke gegen die Höhenkühle, zur grünen Grenze zwischen Elsass und Pfalz geht es, wo man vor Schengen noch den Schlagbaum um 17 Uhr dicht gemacht hat. Noch heute liegt das Gebiet, das sich auf Nordvogesen und Pfälzer Wald erstreckt, derart abgelegen, dass man in fast einer Stunde mit dem Auto fährt, was man sich quer über die Berge in höchstens 20 Minuten erwandert. Normalerweise.

Ich schraube also erst einmal mein Auto zum ersten Pass hoch, einer Straßenkreuzung, deren lächerlich wirkender Name tatsächlich von einer gewissen niedlichen Höhe kündet. Ab hier brennt im Novemberdunkel der Wald, feuergelbe Esskastanien flammen in rote Buchenglut. Nun hat so ein deutsch-französisches Team den Vorteil, dass Einheimische die winzigsten Schleichwege kennen. Straße, welche Straße? Ob ich nicht wüsste, dass es auf die andere Seite eine Piste gäbe, zwar nicht geteert, aber man komme durch. Peinlich. Seit meiner Studentenzeit kenne ich diese Dörfer. Seit nunmehr bald zwanzig Jahren nehme ich brav und ordentlich die Straße. Woher sollte ich die alte Schmuggler"straße" über die grüne Grenze kennen?

Dann "route barrée", "Straße gesperrt", wer soll so ein großkotziges Schild für eine Sandpiste ernstnehmen? Die gelben Warndreiecke mit den Totenköpfen und dem riesigen DANGER gehen in Herbstfarben und fröhlichem Gerede schier unter. Wieder eine von einem Bach ausgewaschene Rille und hopp... geht es weiter. Geländewagen fahren nur Schickimickis in der Stadt, was hier im Wald unterwegs ist, zeigt Gebrauchsspuren eines wilden Lebens. Das Schild mit Tempo 50 wird belacht, da müssten wir ganz schön hochbeschleunigen, um die zu erreichen. Stand da nicht etwas von Holzfällarbeiten? Auch egal, bei diesen nachmittäglichen schlechten Lichtverhältnissen legt doch kein Holzfäller freiwillig die Kettensäge an!

Tälchen, Teiche und immer noch knallt kein Baum aufs Auto, stattdessen weitet sich das Bergpanorama, Indian-Summer-Farben im Sprühregen, die vulkankegelförmigen Kuppen stehen schon in Deutschland und wir vor einem ehemaligen Schlachtfeld zwischen den Fronten. Darüber werden wir intensiv arbeiten müssen, mit Fingerspitzengefühl für die Befindlichkeiten beider Länder, mit scharfem Blick auf das, was Geschichtsbücher hüben wie drüben so gern vermeiden, mit einem Händchen für die europäischen Annäherungsmöglichkeiten. Und weiter geht es, schier unendlich scheinende Wanderwege an den Hängen, Naturidyllen wie aus einem Uraltfotoband und im Auto schwebt immer häufiger das Wörtchen "magnifique" im andächtigem Staunen (und Madame gelingen an diesem Tag nur seltsam verwischte Bilder aus einer anderen Welt...)



Plötzlich am Waldrand Rot-Kreuz-Container, wir sind unversehens auf der deutschen Seite, von der die modernen Invasionen der Sommertouristen abgezogen sind. Dorfidylle wie anno dazumal, es plätschert im Sandsteinbrunnen und riecht nach Waldpilzen. Arbeit war das bereits alles, dann folgt das eigentliche Arbeitstreffen, das auf französischer Seite wiederholt werden wird. Und weil Arbeit hungrig macht und die Kastanienbäume allüberall locken, können wir der Kastanienbratwurst nicht widerstehen. Europas Reichtum, hüben wie drüben lässt es sich schlemmen, lässt sich guter Wein trinken - aber den verkneifen wir uns bei diesen Straßen.

Gut so, denn der niedliche niedrige Pass, über den Alpenbewohner wahrscheinlich lachen würden, liegt im Nebelgewaber und in tiefer Nacht. Dazu Dauerregen und von Blättern versteckte Haarnadelkurven, es ist wie eine Heimfahrt aus der Anderswelt, der Autremonde, die einem in Frankreich manchmal Schnippchen schlägt und in die Wirklichkeit grinst. Autremonde, das war dieser Arbeitstag: ein Elsass, wie man es von vor zwanzig Jahren kennt, Vogesenidyllen, die hier im Norden kaum einer vermutet - und auf der anderen Seite ein verwunschenes Stückchen Deutschland, das beweist, wie man Tourismus haben kann und sich trotzdem nicht zerstören lässt.

Begegnungen mit Menschen, wie man sie sich als Buchautor nur wünschen kann, wildes Europlais auf der Zunge, grünüberwucherte unkenntlich gewordene Grenzen im Herzen. Ob diese Leidenschaft reicht, um all die damit anzustecken, die zwischen Frankreich und Deutschland Hemmschwellen sehen? Wir sind zuversichtlich, denn unser Projekt hat diese grandiose Natur als Helfershelfer zur Seite.
Das größte Problem werden die Auswahl und das Kürzen, sage ich über meinen Teil der Arbeit. Und als ich daheim bin, ein Gläschen Rotwein genießend, kommt mir plötzlich, dass in all diesem urlaubsähnlichen Wohlfühlen etwas von einem Buch fiel, zweisprachig. Ich bin so entspannt und von einer anderen Welt, dass ich vergesse, aufgeregt zu sein. Warum sollte mein Elsassbuch, mit dem all das hier angefangen hat, eigentlich keine europäischen Jungen werfen? Als ich es schrieb, war mir bewusst, dass ich damit in eine andere Verlagswelt wechsle. Welche Türen und Grenzen es mir heute öffnet - darüber kann ich nur dankbar staunen.

2 Kommentare:

  1. Was du schreibst, gefällt mir sehr gut, Petra! Es war, als wäre ich neben dir im Wagen gesessen. So bist du also auch mal wieder an einen Ort zurückgeklehrt, der einen Bogen zu dem schlägt, wo und wie alles anfing.

    Herzlichst
    Christa

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  2. Freut mich, Christa. Es gibt doch diesen Spruch vom Mörder, der immer an den Tatort zurückkehrt? ;-)

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