Leerer Kühlschrank
Ja, dieser Beitrag ist einem lieben Menschen gewidmet, der mich zu Recht darauf aufmerksam gemacht hat, dass es in meinen Texten sehr viele leere Kühlschränke gibt. Das hat mich schon nachdenklich gemacht, denn wenigstens seit 1999 glaube ich, keinen leeren Kühlschrank mehr zu haben. Manche werden sich erinnern: In diesem Jahr waren wir durch den weihnachtlichen Orkan Lothar bis zu drei Wochen von Strom, oft Heizung und vor allem zivilisatorischen Segnungen wie Zapfsäulen und Supermarktkassen abgeschnitten - und viele Dörfer im Schwarzwald und den Vogesen mussten erst freigesägt werden. Seither hat jeder, den ich hier kenne, eine Notration, Campingkocher, Kerzen, Petroleumlampen und was man so braucht, wenn nicht einmal mehr elektronische Türen im Geschäft mehr öffnen. Woher also diese dummen leeren Kühlschränke?
Da sind zum einen die Figuren in dem Buch, das ich gerade übersetze. Die schieben ständig Hunger, manchmal so sehr, dass ich beim Schreiben für sie esse und nachfühlen kann, wie das ist, wenn man sich dann plötzlich auf nüchternen Magen ein Kaninchenragout an Weißwein schnorren kann oder Gedichte rezitiert, um ein Sandwich geschenkt zu bekommen. Dafür haben sie dann allerdings auch tüchtig Drogen getankt und gesoffen, dass selbst mir an der Weinstraße und im gleichen Land allein vom Lesen der Mengen schwindlig wird. Kühlschränke hatten die noch nicht, aber jeder von diesen Hungerleidern revolutionierte die Welt auf seine Art - und ein paar wenige wurden sogar noch zu Lebzeiten reich. Der Rest schnorrte und bettelte weiter.
Und ich treibe mich ja nicht erst seit kurzem in diesem Milieu herum. Seit vergangenem Jahr bewundere ich Sergej Diaghilew, der sein Leben lang (allerdings angesichts zunehmender Leibesfülle wohl eher ein Mythos) nur einen einzigen Anzug besessen haben soll, keinerlei Privatgeld hatte - und ständig auf Betteltour für seine geliebten Ballets Russes ging, die nicht nur Unsummen in die Kunst steckten, sondern auch zu einem der größten und revolutionärsten Kunstprojekte des 20. Jahrhunderts wurden. Überliefert ist der Glamour, wir kennen die überragenden Tanzleistungen, die schillernden Kostüme, die ausschweifenden Partys wie z.B. mit dem Aga Khan. Aber kaum einer erinnert sich, dass die Russinnen und Russen, die dann als Gäste mit Wollust Kaviar schaufelten und Champagner soffen, nur vorsorgten - sie waren bettelarm. Hätten sie Kühlschränke besessen, wären diese wohl die meiste Zeit leer gewesen.
Mein Kühlschrank war noch nie leer, unsere Gesellschaft ist zum Glück bis zu einer Grundversorgung fortgeschritten. Aber Zeiten, in denen man nur Spaghetti variiert, weil zufällig mal wieder alle Kunden auf einmal ihre Rechnungen nicht bezahlen oder "übersehen", kenne ich auch. Ich kenne Leute mit einer Galerie, die vordergründig ihre Künstler zum Essen einladen, damit die sich kennenlernen - und eigentlich, damit sie das Gesicht nicht verlieren, denn für viele ist es endlich einmal wieder eine richtige warme Mahlzeit. Ich selbst habe einmal ein Bild gekauft, weil der Maler mit mehrköpfiger Familie angeblich auf Totaldiät war, während ihm der Hunger in den Augen stand. Und ich sehe immer mehr leere Kühlschränke in der zusammengesparten Kulturwelt, wo einige wenige lobenswerte Sozialprojekte initiieren und sehr viele mit Fingern auf die Künstler zeigen: "Sollen sie doch was Ordentliches schaffen wie andere Leute auch."
Ach, und ich erinnere mich an meine Studentenzeit Anfang der Achtziger, wo es trotz Ferienjobs ein Festmahl für uns war, wenn es statt der allzu oft genossenen Tütensuppen zu einem Reissalat reichte. Mein leerer Kühlschrank damals war eine "Kühlschrankmitbenutzung" bei der alten Dame, wo ich zur Untermiete wohnte. Platz für eine Tupperschüssel und ein Paket Milch. Mehr war eh nicht drin, der Rest des Geldes ging für das zweifelhafte Mensaessen, Bücher, Heimfahrten und brutale Zimmermieten drauf. Und dann stand ich plötzlich fristlos gekündigt da, weil die alte Dame mich angeblich ertappt hatte, wie ich unterm Bett Zentner von Kartoffeln hortete und auf dem Schwarzmarkt verschacherte! Vier Wochen Kündigungsfrist und nirgends ein Loch frei. Zu gern hätte ich beim überstürzten Umzug in letzter Minute in eine andere Stadt die imaginären Kartoffeln mitgenommen!
Warum rede ich so oft von leeren Kühlschränken? Ich habe doch selbst gelernt, dass es auch in der größten Misere irgendwie weitergeht? Ich habe einen Verdacht. Angesichts leerer Kassen für Kunst und Kultur, die scheinbar so neu nicht sind (obwohl damals Mäzene sehr viel mehr zubutterten), fehlt mir nämlich etwas anderes. Mir fehlt der HUNGER. All die Künstler, über die ich arbeitete und arbeite, trafen nämlich auf einen ungestümen Hunger im Publikum, das sich körperlich satt durch Galerien bewegte, in Theater ging - auf der Suche. Diese Leute konnten sich alles leisten, sich jeden Abend auswärts amüsieren und manchmal waren sie sogar übersättigt vom Genuss. Aber genau dann trieb es sie ins Suchen, es trieb sie die Gier nach Außergewöhnlichem, nach Neuem, nach Mutigem. Und sicher war da auch ein Konsumgedanke dabei: Man wollte sich mit Feinstem vom Feinen vom anderen unterscheiden. Übersättigt waren sie nämlich auch von der aufkommenden Massenware, dem billigen Dutzendzeug. Das kauften die Touristen und die Ärmeren den Künstlern ab und die hatten wieder ein paar Sous für Farbe, für die "richtige Kunst". Aber für einen Erfolg wie den von Picasso, von Diaghilew oder Cocteau brauchte es Hungrige unter den Käufern, Menschen, die nach weit mehr hungerten als nach Haus und Besitz.
Und wie war das mit denen, die so oft am leeren Kühlschrank verzweifelten? Sie improvisierten, wie man im Polnischen so schön sagt. Manche versetzten ihre letzte Habe, andere klecksten Massenkrempel nebenher, viele schnorrten oder bettelten und manche verkauften sogar ihren Körper. Sie konnten nicht anders. Sie konnten keinen "ordentlichen Beruf" ausüben, obwohl einige das mit mehr oder weniger Erfolg versuchten, meist mit weniger. Sie machten weiter, egal wie. Richtig vor die Hunde gehen würden sie erst, wenn sie die Kunst aufgaben. Tot waren sie erst, wenn ihnen nichts Neues mehr einfallen wollte. Die Avantgarde ist auch aus der Armut geboren - befördert von Käufern, Spendern und Mäzenen.
Vielleicht denke ich deshalb so oft an leere Kühlschränke, blitzblank und mit Ökosiegel, strahlend weiß und manchmal viel zu groß. Sie tauchen wie Alptraumgebilde auf, wenn ich Diskussionen von Kollegen verfolge, die sich endlos den Kopf zermartern, wie man ein Buch schreiben müsse, um schnell möglichst viele Verlagsverträge zu ergattern und bestmöglichst zu verkaufen. Die sich fragen, wie man den Leserinnen und seltener den Lesern noch mundgerechter, noch angepasster, noch glatter in seinen Texten entgegenkommen könne. Ich sehe dann in einen großen sterilen krankenhausweißen Kühlschrank und frage mich, wo all die Debatten stattfinden mögen, wie man mit einem Text LEBEN könne, der aus einem herausbricht, der fordert, der sich seinen Weg ins Leben manchmal sogar gegen den Autor erkämpft? Wo reden sich die Kollegen die Köpfe heiß vom Nicht-anders-Können, von der Hingabe und Leidenschaft? Wie entstehen heute mutige, neue, andere, einzigartige Texte entgegen aller Bestsellerformeln, Preisvergaberichtlinien, Literaturmoden, Lektorenstatistiken und Verlagscontroller-Forderungen? Bei denen zunächst die Schöpfung wichtiger ist als das Verlegen und Verkaufen?
DIESE wandelnden Kühlschränke (in jeder Kunstrichtung übrigens) möchte ich aus meinem Kopf bekommen. Ich möchte um keinen Preis zurück zu den leeren Schränken der Avantgarde, solch bitteres Hungern muss in modernen Gesellschaften nicht mehr sein. Aber irgendwie sehne ich mich nach mehr überquellenden geistigen Vorratskammern, wo alles wild durcheinander duftet und in allen Farben glüht.
Ich fürchte, ich habe ein Kühlschranktrauma...
Uiuiui, liebe Petra,
AntwortenLöschenda hat sich aber in deiner Person jemand äußerst KOMPETENTER über CRONENBURG-typische Kühlschrankleeren-Motivik geäußert!
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Du, ich habe mich riesig über deinen Spontanartikel zu diesem Thema gefreut! Freudig beschämt danke ich dir auch dafür, dass du ihn mir gewidmet hast. Der Text ist so gut, dass du ihn publizieren solltest - etwa ganz zeitgemäß in DIE ZEIT.
Leider kenne ich die aktuelle Kunstszene nur zu gut, um genau zu wissen, wovon du sprichst. Dem setze ich noch hinzu: Gerade die repräsentativsten Vertreter unserer saturierten Gesellschaft verhalten sich zunehmend wie wandelnde Kühlschränke gegenüber der Hochkultur (will heißen: absolut Kopfkulturorgasmus-FRIGIDE, um es mal krass auszudrücken). Denken wir doch auch darüber ein wenig nach und sprechen wir nochmals darüber, Petra?
Bem Lesen deines Textes fiel mir ein, dass ja gerade unser Hi-SnobEYE-Schönheitsideal (siehe ganz aktuell in den Medien etwa Fußballerfrau Victoria Beckham, die erschreckend wachsende Zahl der Bulimie-Fälle etc.) fatal mit Hungerkünstelei, mit beabsichtigter SCHWÜLKRANK- ... bitte verzeihe mir mein nicht zu diesem ernsten Thema passendes fooling around … ahm, eh . .. Kühlschrankleere zu tun hat.
Mir fällt auch ein, was mir mein geliebter Großvater (geb. 1897) immer ganz aufgeregt und betroffen erzählt hat. Als er noch jung war, gab es offenbar gerade in Wien, so etwa im Prater, bestimmte Lokale, wo sogenannte "Hungerkünstler" ihr klägliches Dasein fristeten. Sie waren gegen Bezahlung wochenlang hermetisch in einen Käfig eingeschlossen. Nach Großvaters Berichten wurden sie sogar unter notarieller Aufsicht von der FRESSENDEN MASSE abgeschirmt. Ihnen durfte nichts Essbares zugeführt werden. In ihren Schaukästen wurden sie täglich schwächer. Dabei sah man freudig zu. Ganze Scharen an Gästen pilgerten wegen ihnen sensationsgierig in bestimmte Lokale. Und sie ergötzten sich am Anblick der Leidenden, der sogenannten Hunger-KÜNSTLERiNNEN, denen sie mit sadistischem Genuss Leckerbissen vor die Nase hielten und hämisch grinsend wieder weg zogen. So soll das gewesen sein. Ein KULINARISCH-KULTURELLER-SM-KLUB des frühen 20. Jhdts.!
Dass es dabei zugunsten der geschäftsfördernden Marathon-Hungernden nach Lokalschluss nicht immer mit rechten Dingen zuging, ist auch klar. Eine sattsame ATTRAKTION war es damals allemal. Wir können uns sowas heute nicht mehr vorstellen? Sind gewisse Fernsehhows unserer Zeit nicht wieder ganz nahe an dieser scheinbaren Unvorstellbarkeit aus heutiger Sicht dran? Übertreffen sie diese menschlich abgrundtiefen historischen Grusel-Szenarien nicht sogar bei weitem?
Meinen Opa, der ein Gerechtigkeitsfanatiker war, würde das sicher so sehen. Ihn hat all das in diese Richtung Gehende schon damals offenbar nicht nur extrem angewidert, sondern auch traumatisiert. Er hat, um einen Begriff Herta Müllers zu verwenden, den HUNGERENGEL im Zuge des 1. Weltkriegs als Kriegsgefangener in Sibirien von seiner nagendsten Seite selbst kennen gelernt.
Könnte das HUNGERKÜNSTELN nicht auch ein Thema für dich sein?
Ich habe auch einiges dazu im Netz gefunden; so etwa das:
http://de.wikipedia.org/wiki/Hungerkünstler
Mit herzlichem Dank
M.
Ganz kurz, weil heftig am Schreiben...
AntwortenLöschenWas das Publizieren betrifft: Für einen solch personenbezogenen Artikel im Feuilleton bin ich nicht prominent genug - und um so einen Artikel als Noname zu schreiben, bräuchte er den "großen feuilletonistischen Wurf", wie man das in der Branche nennt, mehr Übergeordnetes, konkrete Beispiele aus der Welt, der Geschichte... Publiziert ist er ja hier. Das heißt nicht, dass ich nicht irgendwann auch Angedachtes wie das hier verwurste!
Und bitte bitte weiter "fooling around", das ist der Dünger für Ideen. Ich bin, nachdem ich deinen Kommentar gelesen habe, fast zwei Stunden mit dem Hund gelaufen, um das Synapsenfeuer richtig sprühen zu lassen - und dann hatte mein Hund eine Wühlmaus und ich eine neue Idee. Mein Roman fängt nicht mit einem KühlSCHRANK an, aber mit einem SCHRANKkoffer. Und plötzlich hatte ich einen Typ vor mir, der nichts erzählt und scheinbar keine Vergangenheit hat, der förmlich in seinen Anfängen verschwindet und am Tisch sitzt und immer dicker wird. Der alles in sich hineinfrisst.
Ich habe bis eben wie wild getippt... Romanfiguren sind schon was komisches, entstehen womöglich sogar durch Ansteckung!?
Für diese Beflügelung herzlichen Dank!
Das Thema Hungerkünstler (irres Thema) wäre ja fein bei Colum McCann aufgehoben...
Übrigens kenne ich den Ausdruck auch noch von meiner Oma, das muss also wirklich ganz fest im Kollektivbewusstsein gewesen sein. Ich habe nur nie verstanden, was sie mit dem Wort meint.