Reif für die Insel
Inzwischen bin ich so weit, davon wunschzuträumen, jemand würde über Nacht die aufzulösende Wohnung ausräubern - hat jemand Lust? Und ich träume von illegalem Mülltransport über die Grenze, wo ich alles in einen Sack stopfen kann und einfach bei dem freundlichen Mann von der Dechetterie abgeben, ohne vorher jedes Teilchen auseinander nehmen zu müssen (wir haben ja auch Mülltrennung, aber vernünftiger). Stattdessen erledige ich wie ein Roboter zwischendurch Formalitäten (ernte Erheiterung, wenn ich in perfektem Hochdeutsch um Hilfe bitte, weil ich nicht mehr wüsste, wie das in Deutschland funktioniere) und höre mir unterwegs grauenhafte bis irrwitzige Geschichten von Menschen an, die über den Tod reden wollen. Noch irrwitzigere Geschichten entstehen in meinem Kopf und ich platze fast, weil ich keine Zeit mehr zum Schreiben habe - das Blog bleibt als einziges "schriftstellerisches" Ventil.
Morgen wieder eine Runde packen, wieder drei Stunden auf der Straße und zwei Besichtigungen. Hoffentlich bekomme ich die Wohnung, die mich nicht interessiert und die mir nicht gehört, schnell los (RA). Ansonsten will ich nur endlich schlafen schlafen schlafen.
Was mich auf den Beinen hält? Die Einsicht, dass ich die einzige bin, die noch auf den Beinen steht und folglich da durch muss. Die Vorfreude auf einen besonderen Genuss im Juli im Festspielhaus auf den Spuren der Ballets Russes, die ich mir für eine andere Katastrophe spendiert hatte; zum Glück nicht ahnend, dass 2010 das Jahr der Katastrophen würde. Und der feste Vorsatz für das, was die meisten, mit denen ich über das Sterben rede, sich so sehr für die Dahingegangenen gewünscht hätten: Carpe diem - das Leben und Genießen des Augenblicks, des Jetzt. Nie wieder zu sagen: Das mache ich, wenn ich in Rente bin / in zehn Jahren / wenn wenn wenn... Nie wieder das Leben aufschieben. Nie wieder Ausreden für Glückverzögerung suchen, nie wieder sich selbst verhindern.
Mit einem breiten Grinsen arbeite ich daran, nächstes Jahr nach Petersburg zu reisen. Wenn nicht jetzt, wann dann?
Übrigens nehme ich dankbar jeden praktischen Tipp entgegen, wie man sich in solchen Zeiten Muskeln und Nerven stählt und den Packer-Herzinfarkt bei 30 Grad vermeidet! Auch starke Weiber kippen irgendwann um...
Sag mal, ganz praktisch - warum suchst Du Dir nicht ein Unternehmen, das das macht, vor allem das wirkliche wegräumen und wegbringen, nachdem Du das Wesentlich doch schon sortiert haben müsstest?
AntwortenLöschen- das Blog bleibt als einziges »schriftstellerisches« Ventil.
AntwortenLöschenLiebe Petra,
da ich keine konkrete Hilfe anbieten kann, sage ich wenigstens Bescheid, dass alles, was aus Ihrem Ventil entweicht, nicht ins Leere geht.
Es wird sicher von sehr vielen Menschen gelesen. Man kann aber bei so einem Thema weder die Applaus- noch die Buh-Taste als Feedback benutzen: Du bist nicht allein...
Sollte ich in solchen Lebenssituationen mal wirklich ganz alleine da stehen oder Gründe haben, niemanden um Hilfe zu bitten, würde ich auf jeden Fall 2,5 Liter Wasser/Tag trinken und bei öden Pack- oder Aufräumarbeiten einen 'Kopfhörer' mit meiner Lieblingsmusik aufsetzen oder wenigsten ab und zu mal ganz laut schreien oder singen.
Gut, dass Sie Ihr Ventil haben!
Gruß Heinrich
Ach, es tut schon gut, wenn man einfach einmal "ventilieren" kann, warmen Dank für den Zuspruch!
AntwortenLöschen@Sabine
Ich lass das durch Emmaus machen, aber die entrümpeln auch nicht mehr wild in eine Wohnung hinein, sondern wollen Schränke möglichst geleert und Wäsche verpackt haben...
Ich denke aber, dass ich das bis nächste Woche geschafft habe.
@Heinrich
Ich schreibe solche Beiträge ehrlich gesagt gar nicht nur für mich allein. Sondern eben WEIL es so viele Menschen gibt, denen es genauso geht. Und da höre ich im Moment derart erschütternde Geschichten, wo sich auch Fremde, denen man begegnet, plötzlich öffnen.
Diesen Geschichten ist immer eines gemeinsam: Kaum jemand traut sich, im Bekanntenkreis oder in der Familie über Extrembelastungen zu sprechen, wenige fragen aktiv nach Hilfe. Was mich am meisten erschüttert, sind die duldenden Frauen, die aus unterschiedlichsten Gründen zu glauben scheinen, sie dürften nicht versagen, müssten um jeden Preis durchhalten und immer Stärke zeigen. Womöglich noch die anderen vor allem schützen!
Ich habe Menschen gesprochen, die durch solche Situationen in den Burn-out und Schlimmeres gerieten und jahrelang Therapie benötigten, weil sie sich selbst über unerträgliche Grenzen gescheucht haben (das Thema Burn-out hatten wir ja bereits im Blog).
Ich schreibe solche Beiträge auch für diejenigen, die in dieser Gefahr sind - weil ich die gefährliche Grenze zum Zusammenbruch aus Überforderung genau vor mir sehe. Ich will damit sagen, dass es verdammt gut tut, in solchen Situationen auch mal den Jammerlappen herauszuhängen, zu versagen und schwach zu werden. Oder wie Sie es empfehlen, einfach einmal laut zu schreien.
Ich würde mir wünschen, dass sich mehr befreien könnten von dem Trugbild, immer und perfekt funktionieren zu müssen - und das betrifft ja nicht nur solche Extremsituationen, manche machen das ein Arbeitsleben lang und fallen dann am ersten Rententag um.
Aber dass ich Depperl nicht auf die Idee gekommen bin, meinen mp3-player mitzunehmen, verstehe ich nicht. Das ist genau das, was fehlt! Ich stelle mir gerade das Packen von Mülltüten beim Tanz der Jungfrau in Le Sacre von Strawinsky vor ;-)
Und was die Hitze betrifft, sagte mir ein Einheimischer süffisant, ich wüsste doch, dass der Ort früher von Malaria heimgesucht wurde und später als Tropenprüfgebiet galt. Bekomme ich also noch ein Tropenprüfsiegel ;-)
Schöne Grüße,
Petra