Querdenken und Rollenwechsel
Wir wissen heute hinlänglich, dass diese Angepasstheit in politisch prekären Situationen das Umkippen eines Systems befördern kann und in der nachfolgenden Diktatur in einer Art Teufelskreis zum Überlebensmechanismus wird. Dementsprechend eisern und rigide gestalten sich in solchen Zeiten Verhaltenscodices und moralische Muster. Wie gut, dass wir in solch einer Lage nicht mehr leben, dass wir heute in unseren Breiten frei sind!
Aber wie frei sind wir wirklich? Wie viele Schranken häufen wir selbst in unseren Köpfen an, von "sowas tut man nicht" bis "was sagen da die Leute"? Mir kommt eine Kollegin in den Sinn, mit der ich einmal darüber diskutierte, dass man als Schriftsteller nicht zwingend und automatisch Künstler sei, aber als schreibender Künstler ganz sicher Schriftsteller. Was macht dieses Künstlersein aus?, wollte ich wissen. Die Kollegin definierte es durch eine mit dem eigenen Leben verschmolzene Haltung der Distanz. Der Künstler muss fähig sein, zu sich selbst, zu Teilen der Gesellschaft und zum Gesellschaftssystem als solches innerlich in Distanz zu treten, wenigstens zeitweise und wiederholbar. Nur so könne man das alles reflektieren und querdenken. Nur so könne freie Kunst entstehen. Und deshalb könne man Kunst nicht mit dem Handwerksköfferchen "machen", wenn man sie nicht lebe. Das aber sei verdammt unbequem, gefährlich und anstrengend.
Ich denke, mit ihrer Definition vom Künstlerdasein hat sie recht. Doch im letzten Punkt möchte ich ihr vehement widersprechen. Könnte es nicht umgekehrt sein? Berufsbedingt beschäftige ich mich äußerst intensiv mit Menschen; vor allem mit Diskussionen und Theorien um Alter, Geschlechter und all die anderen Kastensysteme, in die sich Menschen einpferchen. Ich schaue mir Anpassungssysteme und Systembrecher genau an - denn Schriftsteller müssen die extremsten Grenzgänger sein. Uns muss man im Roman das dreijährige Mädchen genauso abnehmen wie den achtzigjährigen Schwulen, die treu verheiratete religiöse Fanatikerin ebenso wie die pubertierende Atheistin. Viele Schriftsteller bedienen sich darum immer wieder nur an den gleichen eingeschränkten Rollenspielchen. Viele Literaten wechseln die Rollen ebenso genial wie gute Schauspieler.
In meiner Jugend habe ich die Bücher eines Mannes verschlungen, dem ich dankbar dafür war, dass er auf das übliche gefühlige "Frauengedöns" seiner Zeit zugunsten von Geschichte verzichtete - bis ich erfuhr, dass der Mann in Wirklichkeit Victoria Holt hieß und unter Echtnamen sogar Schmonzetten schrieb. Im Moment lese ich das Buch einer Frau, die eigentlich ein Mann ist, dem ich schon mindestens zweimal zurufen wollte, er sei mir einfach zu weiblich in manchen Beschreibungen. Ähnlich kurios gestalteten sich meine Recherchen um Vaslav Nijinsky, der nach einigen homosexuellen Partnerschaften, darunter der berühmten Beziehung zu Sergej Diaghilew, ganz plötzlich und unerklärlich heiratete und Kinder bekam. Ich dachte, heutzutage müsste es sich herumgesprochen haben, dass es früher Tarnehen gab, dass es Bisexuelle gab, ja sogar Beziehungsexperimente aller Art neben der Ehe, über deren Mut einige moderne "Befreite" heute staunen würden.
Aber trotzdem oder deshalb fand ich so gut wie keine objektive Untersuchung, kein Material, das nicht von Anpassung an irgendein System oder einen Verhaltenscodex geprägt war! Selbst Wissenschaftler verloren bei diesem Thema jede Objektivität. Egal, auf welcher Seite die Autoren standen und lebten, jeder requirierte Nijinsky für sich, untermauerte seine These mit fast religiösem Eifer - und offenbarte damit nur die eigenen massiven Ängste. Das Undenkbarste, das Gefährlichste und Unaussprechbarste schien dabei die These zu sein, dass dieser Nijinsky als Künstler sich um herkömmliche Grenzen überhaupt nicht scherte - sich in der ihm eigenen Kunst nicht scheren durfte. Androgyn, bisexuell, multisexuell oder was auch immer man heute als Etiketten verwenden mag - in seinen Tagebüchern zeigt sich ein Mensch, der alle Etiketten längst hinter sich gelassen hatte. Es ging ihm um Menschen. Er wollte Mensch sein. Und liebend verschmelzen. Heute würde man ihn aus jedem einschlägigen Forum werfen, weil er sich keinem anpasste, absolut keinem. Die Umwelt damals hat es ihm nur erlaubt, weil er Künstler war und schließlich auch "verrückt".
Um zur Diskussion mit der Kollegin zurückzukommen: Aus heutiger Sicht glaube ich, dass der Schritt über jene Schwelle in die innere Distanz extrem schwer ist. Sich aus einer Anpassung zu lösen oder offen nicht mehr dem Verhaltenscodex einer Mehrheit anzugehören, isoliert einen zunächst scheinbar. Man ahnt ja noch nicht, dass der Ausstieg aus einer Gruppe nur der Einstieg in eine andere ist. Angst vor dem "Anderen" bekommen jedoch nicht nur die "Genormten" - Angst, anders zu sein, hat auch derjenige, der noch nicht "drüben" ist. Aber der Künstler, der in seiner Distanz querdenkt, hätte genau die gleichen Schwierigkeiten und Anstrengungen vor sich, wenn er wieder "zurück" wollte in die scheinbar heile Welt. Und ist es nicht noch sehr viel anstrengender und aufreibender, gegen sein eigenes Ich zu leben, nur um dazu zu gehören?
An extremen Beispielen wie Nijinsky (der für die heutige Zeit so extrem nicht mehr ist) können wir leicht ablesen, wie sehr wir uns selbst in unseren Köpfen und Körpern einsperren. Aber beginnt dieses Knechten nicht schon viel subtiler und darum gefährlicher im Kleinen? Wie hat man sich denn "altersgemäß" zu verhalten? Kaufen Frauen wirklich gerne Schuhe? Können Männer tatsächlich keine Hemden bügeln oder Kinder erziehen? Warum zicken angeblich nur Mädchen und Jungs nicht? Wie weiblich oder männlich sind denn nun Autoren, die erfolgreich unter dem Pseudonym eines anderen Geschlechts schreiben? Warum nimmt man nur Künstlern und Verrückten ab, sich außerhalb normierter Räume aufhalten zu dürfen? Warum wagt man so selten Grenzüberschreitungen im Alltag?
Ich habe mich kürzlich daran erinnert, wie ich als Kind in einer Dienstwohnung im Altenheim aufwuchs und stolz darauf war, mehr als nur zwei läppische Omas zu haben. Diese "Omas" (die meisten "Opas" waren kriegsbedingt tot) haben mich gewaltig geprägt, weil sie prallvoll waren mit Geschichten und Leben. Und ich entsinne mich, wie ich den Unterschied machte zwischen den "Langweileromas" und den "Geschichtenomas". Erstere waren ganz "normale" Frauen, die brav, ordentlich und vorhersehbar lebten und das Fernsehprogramm konsumierten. Die "Geschichtenomas" dagegen waren unvergesslich. Da gab es eine Rittergutsbesitzerin mit anachronistischen Adelsritualen, die ihr Zimmer zum Schloß machte. Da war das Pärchen, das in solcher Harmonie miteinander lebte, dass man mir aufschwatzen konnte, es handle sich um "Fräuleins" und Schwestern. Da gab es die weit über Achtzigjähige, die mit Kurzhaarschnitt und riesiger Zigarre vor die Tür trat, aus der Elvis Presley donnerte, dem sie in ihrer Wohnung einen Heiligenschrein errichtet hatte. Da war die Gouvernante, die zur Zeit der Titanic Japan und Afrika gesehen hatte.
Die Normalen, die Angepassten, die Braven und Funktionierenden habe ich alle vergessen. Und wenn ich Menschen begegne, die äußerlich "ganz normal" leben, fällt mir immer zuerst auf, was sie besonders und einzigartig macht. Und plötzlich fällt mir ein, dass es auch zwei Arten von Büchern gibt. Diejenigen, in denen das Romanpersonal vorhersehbar und genormt funktionieren muss - und diejenigen, die uns als Leser über Grenzen treiben und darum den Horizont weiten. Warum aber sollten letzteres nur Künstler dürfen?
PS an Kollege X: Eigentlich wollte ich Vorüberlegungen für den Aufsatz "Erinnerungskultur und Kitsch" anstellen. Tztztz. Ich fürchte, ich bin etwas "abgeschwiffen". ;-)
Oh danke, danke, danke. Genau das brauchte ich heute, um wieder klar zu sehen.
AntwortenLöschenohje. da habe ich aber etwas gesagt und hoffe jetzt wenigstens, dank meines folgekommentars richtig verstanden worden zu sein. aber interessant wars allemal, diese reflexionen zu lesen, die mich auf die eine oder andere art ähnlich seit langer zeit bewegen, gerade auch seit, seit ich aus der stadt aufs land gezogen bin, wo man sich noch um einiges mehr um angepasstheit bemüht, weil die kleinste "verfehlung" u.u. mit verweis aus dem system enden kann. (was mich nicht wirklich betrifft, weil ich ein grenzgänger bin, aber dennoch mein höchstes interesse findet.)
AntwortenLöschenich glaube übrigens nicht, dass wir in einer so furchtbar freien zeit und gesellschaft leben. freiheit kommt aus meiner sicht nur äusserst bedingt von aussen. man muss sie sich in jedem fall nehmen. ein wenig äusserer widerstand (es muss ja nicht gerade eine diktatur schärfsten kalibers sein) ist dabei nur hilfreich. wer meint, alle freiheiten schon zu haben, fällt so viel leichter in die uniformiertheit als jener, der sich bedrückt fühlt ... glaube ich.
... dieser anonyme kommentar kam von erphschwester. (pardon, bin das anonyme kommentieren nicht gewöhnt, war nur zu faul zu irgendwelchen anmeldungen.)
AntwortenLöschenFreut mich, doncish!
AntwortenLöschen@Anonym:
Ich stehe leider auf der Leitung mit dem ersten Satz (da nicht eindeutig zuzuordnen).
Bezieht sich das darauf, dass ich einfach ein Wort aus einem Kommentar bei Heinrich geklaut habe?
Sorry, wenn das falsch kam, ich mache das öfter, dass ich mich an Wörtern bediene und dann einfach frei weiterdenke. Mein Beitrag ist also kein Kommentar zum Kommentar. Heinrichs Blog ist mir einfach nur Anregung gewesen, völlig anders weiterzudenken. Eigentlich kommentiere ich mich selbst. ;-)
Tipp: Da sich hinter "anonym" oft unzählbar viele verbergen: Unter Name / URL kann man sich ein Alias (auch ohne URL) geben, so dass klarer wird, wer was sagt.
Interessante Gedanken übrigens. Ich glaube auch, dass unsere Zeit leider große Rückschritte macht, parallel zum übergroßen Sicherheitsbedürfnis bis hin zum Kontrollwahn. Der letzte Gedanke gibt mir zu denken. Tatsächlich kenne ich einige, die das Nonkonformistische oder Ausgeflipptsein schon völlig institutionalisiert haben. Dagegen ist die Dorfbäckerin eine Erholung!
Ah, jetzt hat sich unser Kommentar zeitlich überschnitten, aber ich habe es mir fast gedacht.
AntwortenLöschenWie gesagt, ich hab der Erphschwester einfach nur frech ein Wort gemopst, um einen Einfall fürs Bloggen zu bekommen. Ich glaube, wir denken über das "Altersunangepasste" ziemlich ähnlich!
Wie hat Heinrich mal gesagt: Stichworte sucht man nicht im Stichwortkatalog, sondern findet sie im Dialog mit Menschen.
AntwortenLöschenes ist durchaus möglich, dass er das irgendwo 'gemopst' hat - ohne es zu wissen - wie so etwas zustande kommt, beschreibt PvC auf Ihre einzigartige Art im nächsten Artikel. ;)