Liebesgeständnis
Das ist er. Eine meiner ersten großen Lieben.
Es war Liebe auf den ersten Blick - ich war süße sechs Jahre alt. Und lernte mit Bleistift und auf Butterbrotpapier Bögen, Wellen und Spazierstöcke malen, um endlich, endlich schreiben lernen zu dürfen. Wer es besonders schön machen wollte - es gab nämlich für schöne Hausarbeiten Sternchen und für je zehn Sternchen kleine Bilderkärtchen - der durfte etwas dazu malen oder die Anfangsbögen einer Zeile in Rot schreiben.
Nicht in irgendeinem Rot. Sondern in einem Rosenrot, das wirkte, als sei es aus Dornröschens Hecke destilliert; das sich weich und geschmeidig aufs Papier legte. Es war das Rot des Kopierstifts von Faber, erkenntlich an der Kuppe, eingebettet in einen Stift von wirkungsvollem, einfachen Design: schmeichelrund, in den edlen Farbkontrasten von hellem Holz, Rosenrot und jenem unverwechselbaren Grün von Juniwäldern. Ebenso unverwechselbar waren Geruch und Geschmack dieses Stiftes, den man mit ein wenig Spucke sogar zum Aquarellieren antreiben konnte.
Nie mehr vergesse ich das sinnliche Erlebnis, wenn ich diesen fast ein wenig fettigen Kopierstift über besonders weiches, weißes Schönschreibpapier gleiten ließ, wenn er in den Buchstabenbögen winzige Schatten zeichnete und meine Launen in sanftem Rosé oder sattem Knallrosarot sichtbar machte. Ich war süchtig nach dieser Zweierbeziehung, konnte mich nicht von ihm trennen - und wollte nichts anderes mehr tun, als dieses Gefühl ein Leben lang zu genießen.
Einmal ging ich für diese Liebe sogar so weit, dass ich kriminell wurde. Es ist nie herausgekommen, bis heute nicht - und ich habe es seither auch nie wieder getan. Und doch habe ich heute noch für die Täterin Verständnis. Die war aus irgendeinem Grund ihres Kopierstifts beraubt. Hatten die Eltern ihn weggesperrt, weil sie nicht brav gewesen war? Jedenfalls konnte ich dem Drang und der Sehnsucht nicht widerstehen, es zerriss mich fast. Im Mäppchen meiner Freundin prangte ein fast neuer Kopierstift. Ich weiß noch heute, wie viel kriminelle Energie ich aufbieten musste, ihn im Handumdrehen zu stehlen, obwohl ich fortan damit nur heimlich schreiben konnte. Nur die Tatsache, dass meine Freundin heimlich ihren eklig kratzigen Radiergummi gegen meinen schönen, weichen, weißen austauschte, hielt mich davon ab, mich selbst bei der Polizei zu stellen.
Wie das mit großen Lieben so ist, weiß man später nicht mehr genau, wer sich von wem wann und warum getrennt hat. Irgendwann war ich auch geographisch so weit entfernt, dass die Chance, je wieder einen Kopierstift kennenlernen zu können, gegen Null tendierte. Längst hatte ich mich damit abgefunden, als glücklicher, bedürfnisloser Single von wechselnden Affären zu leben - mit Tintenschreibern, die sich allzu schnell davonmachten, oder mit Bleistiften, die mich nach nur einer Nacht schmerzlich an den Ex-Geliebten erinnerten. Ein ganzes Leben lang redete ich mir ein, dass ich Rot ja gar nicht mag. Ich bin ein Blaumensch.
Und plötzlich war er wieder da. Eben dieser: meine alte große Liebe. Ich hätte ihn unter Tausenden wiedererkannt, mit der Delle, die mein Milchzahn hinterlassen hatte, mit der abgesplitterten Kuppe. Liebe kann manchmal stürmisch sein.
Er muss gealtert sein wie ich. Schon rückt seine Rente in ahnbare Nähe. Nur noch ein oder zwei Mal, allenfalls drei Mal wird der Spitzer ansetzen können. Aus dem einst schlanken, lang gewachsenen Geliebten ist ein kleiner knubbeliger Stummel geworden.
Aber wir haben es wieder getan. Auf Bütten.
Beneidenswert. Mein erste Schreibgerät war ein Griffel, mit dem es unmöglich war, eine gerade Linie, geschweige denn einen sauberen Schwung zu zeichnen. Und das Geräusch, wenn er über die Tafel kratzte! Furchterregend. Wahrscheinlich schreibe ich wegen dieses kindlichen Traumas nur mit Tastaturen - erst Schreibmaschine, jetzt Computer. Was für ein wunderbares Geräusch, wenn die Finger über die Tasten fliegen. Wie Musik. Nur die langen Pausen stören manchmal ;-)
AntwortenLöschenberührend-schön
AntwortenLöschenDanke, Josefa!
AntwortenLöschen@Matthias
Das Quietschen von Kreide auf Schiefertafel fühlt sich in meinen Augen genauso grausam an, als würden lange Fingernägel an metallenen Dachrinnen kratzen...
Ich hab beim Aufräumen der Wohnung meiner verstorbenen Mutter vor zwei Jahren einen blauen Bruder Deiner ersten Liebe gefunden....und - Farbe hin oder her - das Schreibgefühl ist ein ganz besonderes!
AntwortenLöschenStimmt, irgendwann habe ich gehört, es gäbe auch blaue (lechz). Jetzt muss ich doch mal ganz blöd fragen, weil ich das nie lösen konnte (nicht einmal mit der Website des Herstellers): Was sind eigentlich "Kopierstifte"? Schön altertümlich steht darauf "Copier", in Büros meiner Kindheit gehörten sie zur Grundausstattung - kann man damit mit irgendeinem geheimnisvollen Verfahren vielleicht kopieren?
AntwortenLöschenÜbrigens ist der Stift ideal für Fahnenkorrekturen - ein Vergnügen!
Ein schlauer Mensch hat mir das Kopierverfahren erklärt (danke!) - so etwas müsste wirklich nicht schüchtern per Email passieren, von einem öffentlichen Kommentar hätte jeder etwas!
AntwortenLöschenDemnach schrieb man früher das zu Kopierende auf festem Papier mit Kopierstift, legte ein dünnes, durchscheinendes und befeuchtetes Papier (z.B. Seidenpapier) darüber und walzte kurz an. Der wasserlösliche Farbstoff des Kopierstifts übertrug sich auf das feine Papier, das man dann vorsichtig abzog.
Das mit der Wasserlöslichkeit haben wir als Kinder durch Anlecken herausgefunden und siehe da - eine Recherche bei Wikipedia unter "Kopierstift" führt zur Erkenntnis, dass solche Stifte heutzutage nicht in Kinderhände gehören und angeblich ganz doll gefährlich giftig seien (meine Generation hat's überlebt). Wegen des wunderschönen Methylvioletts, das diesen unverwechselbaren Rotton ergibt (Wikipedia irrt aber in Sachen Eosin, das übrigens in Fr. als stinknormales Desinfektionsmittel für Wunden genutzt wird).
Methylviolett hatte ich als Kind auch schon flüssig in Händen - um Präparate fürs Mikroskopieren in herrliches Pink zu färben.
Weitere Recherchen zum Farbstoff ergeben Krimistoff: Es gibt nichts Schlimmeres, als jemandem mit einem angespitzten Kopierstift ins Auge zu stechen - ganz ehrlich, mir wäre schon ein ungiftiger Buntstift zuviel im Auge! Zelltoxisch auf Haut soll es außerdem wirken, ich habe natürlich gleich nachgeschaut, ob meine einst rote Zungenspitze noch dran ist...
Spaßig die Entstehung der Farben durch Unterschriftenhierarchien: Demnach gibt es auch grüne Kopierstifte für Generaldirektoren!
Und zu meiner größten Freude kann man die urkundenechten Kopierstifte immer noch kaufen, sogar per Internet. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich meinen Stummel vielleicht nie so vermisst?