Autorenwerkstatt: Fotoarbeit

Ich werde bei Lesungen immer wieder gefragt, wie eigentlich im Autorenhirn Geschichten entstehen und wie autobiografisch denn nun ein Text sei. Das geht so weit, dass manche Leser eine fiktive, erzählerische Ich-Perspektive nicht vom realen Autoren-Ich unterscheiden können oder wollen. Im anderen Extrem behaupten Autoren manchmal, sie würden sich garantiert und 100%ig ausschließlich an der eigenen Fantasie bedienen.

In den meisten Fällen wird es wohl so ähnlich sein wie bei mir: Ich gehe wie ein Schwamm durchs Leben und sammle Gesichter, Gesten, Töne, Augenfarben, Dinge, Szenen. Besonders eindrucksvolle Fundstücke notiere ich - denn wer weiß, wann man mal wieder vergeblich nach einer bestimmten Armbewegung sucht, die man zufällig vor fünf Jahren auf einem Bahnhof beobachtet hat. In gewissem Sinne betätige ich mich wie eine Art Vampir, der sich an der Realität besäuft, um irgendwann daraus und aus der wilden Fantasie Fiktionen zu verdauen. Die Geschichten, die ich erzähle, haben insofern mit mir zu tun, als sie durch meinen eigenen Textverdauungsapparat geflossen sind und keinen anderen.

Da ich im Moment leider nur Stückwerk schreiben kann - in der Hoffnung auf bessere, zeitvollere Zeiten - fiel mir beim Experimentieren ein schönes Beispiel in die Hände, wie man aus ein und demselben realen Anlass völlig unterschiedliche Fiktion entwerfen kann. Für alle, die schon immer einmal wissen wollten, wie so etwas aussehen kann, stelle ich die Texte ausnahmsweise online. Das Laden der Seite dauert bei mir leider etwas länger, liegt offensichtlich an Windoofs Stöhnen... Über Feedback, wie's gewirkt hat o.ä. würde ich mich natürlich freuen!

Die Texte sind aus meinem Projekt "Transit Bleu", das schon seit vielen Jahren geschrieben werden will, sich aber ständig verwandelt hat. Jeder Text wird aus der Sicht einer anderen Frau erzählt - wobei sich die beiden Frauen später treffen sollen. Keine davon ist autobiografisch. Real ist jedoch ein historisches Foto, das ich vor über einem Jahr entdeckte. Es ist in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg aufgenommen und zeigt unbekannte Personen in einem Hauseingang. Es ist derart austauschbar und nichtssagend (oberflächlich gesehen), dass man es als ideales Unterrichtsthema für eine Schreibwerkstatt nehmen könnte. Sicher gäbe es dazu noch sehr viel mehr Geschichten als die meinen. Die kann man HIER lesen.

Und damit wissen nun auch meine werten Leserinnen und Leser, was an Schrecklichem auf sie zukommen könnte, sollte ich mich entschließen, wieder einmal Belletristik zu schreiben.

4 Kommentare:

  1. Wie hat der Text gewirkt? Irgendwie erschütternd, Petra.
    Ich wünsche dir bald wieder mehr Zeit und gute Nerven für deine Projekte!

    Herzlichst
    Christa

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  2. Liebe Petra,
    ich habe Ihnen meine Gedanken zu den beiden Texten per Email an die Adresse geschickt, die ich dort http://www.cronenburg.net/contact.htm gefunden habe.

    Der 2. Text hat mich überfordert. Das ist ja nicht schlimm, aber der Grund liegt in mir und nicht bei der Autorin.

    Gruß Heinrich

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  3. Oh danke Christa, das brauch ich nötig (vor allem mein Brotjob braucht mich, sonst ist er irgendwann weg).

    Aijaijai Heinreich, angekommen - und Sie werden sofort zum Lektor für schiefe Faktenlagen ernannt. Sie fragen richtig, wie zu Hitlers Geburtstag eine Fotoaufnahme um 1910 entstehen kann. Da hab ich natürlich hier im Beitrag, zum Glück nicht im Text, Mist gebaut. Anachronismus pur.

    Ich hätte sagen sollen, dass das Foto selbst im Text nicht vorkommt, mich nur in beiden Fällen zum Text inspiriert hat. Beim zweiten Text habe ich mir einfach eins der kleinen Kinder herausgepickt, das so undefinierbar war - und dessen Leben in den zweiten Weltkrieg versetzt. Da ist es dann die Frau mit dem Mann im Fenster.

    Sie sind ein scharfer Beobachter!

    Schöne Grüße,
    Petra

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  4. Liebe Petra,

    die Ernennung zum Lektor für schiefe Faktenlagen freut mich aufrichtig! Nicht, dass ich nun meine endgültige Bestimmung gefunden hätte, aber so ein anspruchsvoller Posten oder wenigsten Titel hilft mir sehr, meine bescheidenen Talente auch auszuweisen.

    Ich habe die Ernennungsurkunde
    http://heinrich11.files.wordpress.com/2010/06/lektor.jpg
    dokumentenecht kopiert und revisionssicher abgelegt.

    Nun kann ich endlich meinen unqualifizierten Zwischenrufen in Schriftstellerblogs einen semiprofessionell amtlichen Anstrich verleihen.

    Gruß Heinrich ;)

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